Der Traum des Schattens
unser Schutz. Jetzt ist er nur noch eine Peitsche, mit der man die Schatten in den Wäldern zusammentreibt.«
» Geben Sie mir Ihre Hand«, sagte Hanna. » Dann gehen wir in die Wälder.«
» Zu den Schatten? Ich darf diese Stadt nicht verlassen, es ist viel zu gefährlich. Der Wind schaukelt auf der Brücke wie ein Kind über den Wolken.«
» Vertrauen Sie mir. Hier, meine Hand. Wir retten den Prinzen.«
Elira legte die Stirn in Falten, aber auch damit sah sie viel zu jung aus, um mütterlich zu wirken. » Welchen?«
» Den kleinsten. Kommen Sie, wir retten den kleinsten Prinzen.«
» Ist er blond?«
» Nein, er hat schwarze Haare und ein freches Lächeln. In ihm ist so viel Licht, dass die Welt sich verwandeln wird.«
Die Königin ergriff die ausgestreckte Hand. Es fühlte sich so real an, dass Hanna erschauerte. » Kommen Sie«, sagte sie und ging rückwärts durch den Vorhang. Der Stoff streifte ihren Rücken, blieb an ihren Haaren hängen.
Nein, es war kein Vorhang, es waren Zweige und Blätter. Im nächsten Moment standen sie im Wald.
Irgendjemand schrie. Dann tauchte Wikor auf, mit zerzausten Haaren und einer blutigen Schramme im Gesicht. » Die stehen nicht so schnell wieder auf. Aber…«
Er starrte die Königin an, und die Königin starrte zurück. Sie war tatsächlich hier. Es hatte geklappt!
» Prinzessin?«, fragte Elira verwirrt. » Wer ist der Kerl? Ein Wächter, blutbesudelt?«
» Flusshüter war ich, Flusshüter bin ich«, sagte Wikor und verbeugte sich. » Es ist mir eine Ehre, Majestät. Und nun folgt mir, es eilt.«
» Majestät? Ich diene nur. Ich diene Akink.«
» Ja, und auf diese Weise dienen Sie Akink am besten«, sagte Hanna. » Rasch!«
» Das ist die schnellste Methode. Bitte verzeiht mir meine Frechheit.« Kurzerhand hob Wikor die Königin hoch und trug sie. So schnell sie konnten, jagten sie schattengleich durch das Waldesdunkel.
34
AM DONAUUFER, UNGARN
Mattim hatte schon so einiges gesehen, doch das war vermutlich das Schlimmste: wenn Schatten gegen Schatten kämpften, in einem blutigen Kampf, bei dem keiner sterben konnte. Kunun hatte Mattim die Hölle versprochen, und das war sie– ein endloses Gemetzel. Sie hackten sich gegenseitig in Stücke. Blut und Tränen und Schmerz, doch nichts davon bedeutete das Ende. Die Fledermäuse zerkratzten den Feinden die Gesichter, versuchten sie zu blenden, und so taumelten zahllose blinde Schatten durch das Getümmel und schlugen wild um sich, ganz gleich, wen sie trafen. Es ging immer weiter, solange jemand noch einen Arm bewegen oder mit seinen Beinstümpfen kriechen konnte.
Ab und zu versuchte einer der Krieger, sich aus dem Gemenge zu lösen und über die Wiese auf Bartóks Wagen zuzulaufen, aber er wurde jedes Mal aufgehalten. Dennoch bewegten sich die Kämpfenden stetig auf das Auto zu, in dem der Junge saß. Irgendwann würden sie ihn erreicht haben, und Mattim machte sich nichts vor: Es war wesentlich leichter, Attila zu töten, als ihn nach Magyria zu bringen, denn hier gab es keine Pforte. Er konnte nur hoffen, dass Hanna vorankam, während sich die Schatten aneinander aufrieben. Immer mehr Kämpfer lagen in einer Masse aus Fleisch und Knochen am Boden. Immer mehr Fledermäuse starben, zerrissen von grausamen Händen oder aufgespießt auf blutigen Klingen. Mattims Schatten versuchten ihn zu schützen, so lange es ging. Als Mensch war er zusammen mit Mirontschek am verwundbarsten, sie beide, die ein einziger Stich, ein einziger Stoß, eine einzige Kugel töten konnte. Also kämpften sie Rücken an Rücken gegen das Grauen um sich her.
Kunun focht irgendwo in der Nähe, streckte Schattenrebellen um Schattenrebellen nieder, bis er schließlich vor Mattim stand.
Solta bahnte sich den Weg zu ihnen, bevor Kunun auch nur das Schwert erheben konnte. » Ich komme, haltet durch!«
Mit einem lässigen Achselzucken schritt der Schattenkönig zwischen den in tödliche Zweikämpfe verstrickten Kriegern hindurch, auf Bartóks Auto zu.
» Bleib bei Mirontschek!«, rief Mattim Solta zu, schlüpfte zwischen Männern und Frauen hindurch, die einander wie Tanzende umschlangen, und setzte seinem Bruder nach. » Warte!«
Kunun drehte sich um, und seine Würde kam ihm wieder einmal in die Quere. Statt auf den Wagen zuzurennen wie ein Flüchtling, blieb er stehen und schenkte Mattim einen triumphierenden Blick.
Zeit schinden, dachte Mattim. Das ist meine Aufgabe in diesem Kampf, das bekomme ich wohl noch hin.
» Rennst du vor mir
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