Der Traum des Schattens
dickem Papier, und er winkte sie beide durch.
» Warum verhüllt er sein Gesicht?«, fragte Hanna.
» Ich glaube, er wurde in der Schlacht entstellt«, sagte Réka leise. » Wie so viele. Es ist hart für einen Schatten, schwer verletzt zu sein, und wir wollen ja nicht die Leute verschrecken.«
Sie lotste Hanna durch den Torbogen in den inneren Hof, von wo aus eine breite Treppe hinaufführte. Die Stimmen und die Musik wurden lauter, als zwei Wächter große Flügeltüren öffneten und sie in einen gigantischen Saal ließen, in dem die versprochene Party stattfand. Es war eine erstaunliche Mischung aus Alt und Neu, aus Magyria und ihrer eigenen Welt. Das galt nicht nur für die Tänzer, die teilweise modern angezogen waren und teilweise die altertümlichen Gewänder dieser Welt trugen. Die Fackeln an den Wänden bissen sich mit der erstaunlich modernen Musik. Keine Mittelalter-Choräle, sondern harte Rhythmen, die ins Blut gingen.
» Besteht die Band aus Schatten?«, fragte Hanna dicht an Rékas Ohr.
» Nein, natürlich nicht. Es sind Menschen.« Réka schüttelte den Kopf, als wäre die Frage besonders dämlich.
Hanna konnte sich immer noch nicht so recht vorstellen, wie ein Schatten den Unterschied zwischen Leben und Nichtleben erkannte, für sie sahen alle im Saal gleich lebendig aus.
Stromanschluss gab es in Akink keinen, daher mussten die Musiker mit Akustikgitarren auskommen. Dafür versprach ein glänzender Flügel lohnenswerten Hörgenuss. Einen Moment lang bedauerte Hanna die armen Männer, die ihn durch die Pforte hatten schleppen müssen, da wurde ihre Aufmerksamkeit von etwas anderem abgelenkt. Auf der Empore, die rund um den Saal verlief, standen zwei Gestalten, die das Geschehen beobachteten. Atschorek hatte die Hände aufs Geländer gelegt und stand still wie eine Statue da; eine leicht beschädigte Statue, denn ihre Wange war vernarbt. Trotzdem wanderten die Blicke der Tänzer immer wieder nach oben, bewundernd die der Männer, eingeschüchtert die der Frauen. Auch Krisztina, die kurz vor Hanna und Réka den Saal betreten hatte, starrte stirnrunzelnd zur Empore hinauf, diese Menschenfrau, die nicht aufhören konnte, Fragen zu stellen.
» Wer ist das?«, fragte sie laut. Die Musik übertönte ihre Stimme, aber Hanna stand dicht genug, um sie zu verstehen.
Ihr Begleiter beugte sich zu ihr. » Gefällt es dir hier etwa nicht? Ich habe dir gesagt, es wird außergewöhnlich.«
» Wer ist diese Rothaarige? Sie… sie ist mir unheimlich.«
Der Schatten wandte den Kopf, und Hanna zuckte zurück, als er sie direkt ansah. » Komm«, sagte Réka. » Lass uns tanzen.«
» Warum hat er mich so angestarrt?«
» Weil er glaubt, er wüsste mehr als du. Komm jetzt.« Réka zog sie durch die Feiernden.
Hanna war sich bewusst, dass Atschorek immer noch von oben herunterstarrte wie ein Falke, der Mäuse auf einem freien Feld beobachtete.
Verstohlen versuchte Hanna einen Blick auf die zweite Gestalt zu erhaschen. Sie zweifelte nicht daran, um wen es sich handelte, trotzdem konnte sie nicht anders, als immer wieder nach oben zu spähen. Der König von Magyria stand an die Wand gelehnt da, lässig, wie ein Wächter. Im Schatten. Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen, sah nur, dass er schwarze Kleidung trug. Typisch, dachte sie. Immer muss er den Klischees entsprechen. Böse, dunkel. Ein Vampir, der mit meinen Erwartungen spielt.
Mit meinen? Als ob Kunun etwas darauf gegeben hätte, was sie über ihn dachte. Als ob er überhaupt gewusst hätte, dass sie hier war, in dieser Nacht, in der er seinen Sieg feierte.
» Tanz!«, zischte Réka ihr zu. » Ich will nicht auffallen.«
Hanna bewegte sich zur Musik, aber sie konnte ihren Augen keine Zügel anlegen. Dort oben, hinter den Gitterstäben der Empore, bewegte sich der dunkle Mann und trat neben Atschorek ans Geländer. Hanna schlug die Hand vor den Mund, als sie sein zerstörtes Gesicht erblickte.
» Tanz«, befahl Réka. » Tanz weiter. Die anderen sollen glauben, ich hätte eine Freundin mitgebracht. Eine dumme Gans, die nur ans Tanzen denkt, die nichts merkt, die nichts weiß. Niemand darf ahnen, dass wir mehr vorhaben.«
Sie hatte natürlich recht. Die ganze Mühe der Verkleidung war umsonst, wenn Kunun sie bemerkte. Trotzdem konnte Hanna ihr Entsetzen kaum verbergen.
Hast du ihn nicht gesehen?, wollte sie fragen. Wie entsetzlich, er, der einst schön war wie ein Engel! Aber sie biss sich auf die Lippen. Eine Weile tat sie so, als wenn sie tanzte.
Weitere Kostenlose Bücher