Der Traum des Schattens
der Engel des Millenniumsdenkmals über ihm wachte. Immer würde sein Schmerz auch ihrer sein. Tausend Bilder. Tausendmal Lachen oder Weinen, Erschrecken oder Freude. Dunkle Stunden und helle. Anderthalb Jahre, aber es fühlte sich an wie eine Ewigkeit.
Das Blut floss ebenso wie die Bilder. Alles floss aus ihr heraus.
Kunun stand noch immer vor ihr, und sie lehnte den Kopf gegen seine Schulter. Wie merkwürdig sie sich fühlte, so leer.
» Jetzt«, sagte er und ließ sie los.
Dies war der Moment, der allerwichtigste… Was tat sie eigentlich hier? Etwas war wichtig, das wusste sie noch, nur was genau?
Da, vor ihr zwei Kämpfer, ein blonder Mann und eine rothaarige Frau, die mit ihm rang. Er wehrte sich, als sie ihn packte, und kam trotzdem nicht gegen sie an, während sie ihn gegen die Brüstung drängte. Immer verzweifelter und hektischer wurden seine Bemühungen, doch die Kriegerin ließ sich nicht beirren und stieß ihn über das Geländer. Als er mit einem gellenden Schrei abstürzte, berührte es Hanna nicht im Geringsten. Der dumpfe Aufprall– ging sie das etwas an? Nein, genauso wenig wie das Kreischen der Menge im Saal.
» Das war’s«, sagte Kunun leise.
Etwas berührte ihre Hände, die sich um das Geländer krallten. Eine Schnauze. Ein Wolf. Mit seinen runden goldgelben Augen starrte er sie einen Moment an, dann entblößte er seine Zähne. Vor Überraschung stieß sie einen Schrei aus, als er sie in die Seite biss. Ihre Verwirrung schien zu explodieren. Der Schmerz brannte wie Feuer, dann schwebte ein Band aus Dunkelheit heran.
Das Letzte, was sie hörte, war Kununs Stimme: » Bitte schön, Atschorek. Tu dir keinen Zwang an.«
Hanna fiel, und mit seinen starken Armen fing er sie auf.
9
AKINK, MAGYRIA
Es ging so schnell, dass Réka nicht sah, wie es genau passierte. Ein Schwertstreich, ein Stoß, jemand stürzte über die Brüstung. Blonde Haare leuchteten kurz auf.
Die Menge stob auseinander, Lärm, Panik. Eine Frau kreischte: » Er ist tot! Er ist tot!«
Réka öffnete den Mund, doch dann schrie jemand anders für sie. Auf der Empore erschien Mirita.
» Mattim!«, brüllte sie und stieß Atschorek zur Seite, die lächelnde Schattenprinzessin mit einem Schwert in der Hand.
» Oh Gott«, flüsterte Réka. » Das kann nicht wahr sein. Bitte, lass es nicht wahr sein.«
Auch Kunun stand dort oben, dunkel und gelassen, und hielt Hanna in seinen Armen, Hanna, die den Kopf an seine Brust lehnte.
» Mattim!« Mirita beugte sich über das Geländer. » Mattim!«
Zu viele beugten sich über den Gestürzten, weshalb Réka nicht richtig sehen konnte. Sie musste sich zwischen den anderen Schaulustigen hindurchdrängen. Mattim war auf den Bauch gefallen und lag nun da wie eine zerbrochene Puppe. Auf leisen Sohlen schlichen die Wölfe näher. Atschorek schritt die Wendeltreppe hinunter, in der Hand eine Öllaterne, die sie über dem ächzenden Opfer schwenkte…
Mattim versuchte sich aufzurappeln.
Réka verstand gar nichts mehr. Kein Mensch konnte diesen Sturz überlebt haben. » Mattim! Mattim, lauf!«, beschwor sie ihn. » Hau ab, schnell! Atschorek will dich verbrennen!«
Der Gestürzte erhob sich auf die Knie. Die blonden Haare hingen ihm auf die Schulter, lösten sich von der Kopfhaut. Ein Auge starrte sie an, blind vor Schmerz, das andere war zerstört.
Der Verletzte war gar nicht Mattim, sondern Miritas Verehrer Piet. Der nette Piet, der immerzu versuchte, sich mit Mirita zu verloben. Atschorek hatte nicht mit ihrem Bruder, sondern mit Piet gekämpft, der eine Perücke trug. Hanna war offenbar nicht die Einzige, die sich heute verkleidet hatte.
» Was?«, stammelte nun auch Mirita. » Was soll das?«
» Warte«, sagte Kunun.
Atschorek, die Lampe noch in der Hand, hielt mitten in der Bewegung inne. » Du hast es mir erlaubt«, sagte sie zornig, eine Tigerin mit Zahnschmerzen.
Reglos stand der dunkle König oben am Geländer, während Hanna sich schwer gegen ihn lehnte.
» Geduld, meine Liebe«, sagte er. » Erst noch ein paar Worte an meine Schatten, damit auch jeder versteht, was hier vor sich geht. Dieser junge Mann hier, der eben noch blond aussah, ist ein Mitglied meiner Wache. In wenigen Augenblicken werde ich meiner Schwester erlauben, ihn zu verbrennen. Womit hat er das verdient?, mögt ihr euch fragen. Er ist ein freundlicher, netter Kerl, wie sicher alle diejenigen bestätigen werden, die ihn kennen. Hat er sich einer meiner Anordnungen widersetzt? Oder ist er bloß meinen
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