Der Traum des Schattens
vielleicht. Ich habe keine Ahnung, wo er ist und was sie mit ihm gemacht haben. Es ist alles schiefgegangen. Ich dachte, er wäre tot, aber er war es gar nicht…«
Sie ließ es zu, dass ihre Mutter sie in die Arme schloss und an sich presste. Einen Moment lang erlaubte sie sich, wieder ein Kind zu sein, das Trost suchte. Dann zwang sie sich dazu, stark zu sein. Sie nahm Mónika mit durch die Pforte, zurück unter den grauen Morgenhimmel von Budapest. Im Osten schob sich die Sonne über die Kante der Welt, trotzdem würde es nur ein weiterer dunkler Tag in diesem dunkelsten aller Sommer werden, diesem Sommer im Nebel.
» Ich muss dir etwas sagen«, begann ihre Mutter, » das eine Bild…«
Réka unterbrach sie. » Tut mir leid, Mama. Ich wollte dich nie beißen. Von allen Menschen wollte ich dich verschonen, aber ich habe keine Wahl.«
Im dichten Smog brauchte sie kein Blut, doch Mónika Szigethy hatte in dieser Nacht zu viele Dinge mitbekommen, von denen sie nichts wissen durfte. Die Versuchung war fast zu stark– sich ihr anzuvertrauen, ihr alles zu erzählen von dem fremden Schloss in einer finsteren Zauberwelt… Vielleicht würde ihre Mutter es sogar glauben. Es verstehen. Ihr verzeihen, dass sie ein Schatten war, ihr Absolution erteilen, wie es nur eine Mutter konnte.
Wenn du ungehorsam bist … Erst die eine Freundin, dann die zweite. Dein Vater, deine Mutter, dein Bruder.
Nein, Réka konnte es nicht riskieren. Lieber unwissend sein als ein Schatten. Lieber einmal verletzt werden, als ein Schatten zu sein. Lieber verraten und betrogen, als ein Schatten.
Ich muss sie beißen. Ich muss sie für mich beanspruchen.
» Tut mir leid, Mama.« Also grub sie die Zähne ins Fleisch ihrer Mutter und brachte sie nach Hause, wo der neunjährige Attila gerade versuchte, auf eigene Faust Frühstück zu machen.
Eine Kerze brannte. Die Vorhänge bauschten sich im Wind, der durch das offene Fenster hereinwehte, die kleine Flamme flackerte und ging aus.
Hanna horchte in die Dunkelheit. Sie lag auf einem Bett, wie ihre tastenden Hände verrieten. Seidiger Stoff, ein Kissen. Ihre Finger stießen gegen etwas– nein, gegen jemanden. Erschrocken fuhr sie zurück.
» Wie geht es dir?« Kununs Stimme verschmolz mit der Nacht.
» Ich… ich weiß nicht.« In ihrer Brust lag etwas Schweres, das sich wie ein Stein anfühlte. Sie setzte sich auf und presste die Hände dagegen. Dabei vergaß sie weiterzuatmen und erschrak. » Was ist passiert?«, flüsterte sie.
» Fürchtest du dich?«, fragte die ruhige, sanfte Stimme. » Soll ich die Kerze wieder anzünden?«
» Noch nicht.« Unwillkürlich war sie dankbar für die Dunkelheit, die so gut zu dem passte, was sie in sich fühlte. Diese Stille. Er atmete nicht. Sie atmete nicht. Es war, als wären sie beide in einem Grab gefangen. Doch der Wind, der durchs Fenster hereinfuhr, streichelte wohltuend ihre Haut, sanft und kühl. » Der Wolf.« Sie berührte ihre Seite, stellte fest, dass sie ein Nachthemd trug, und fand darunter die Furchen über ihrem Hüftknochen. » Er hat mich gebissen. Ich… bin jetzt ein Schatten?«
» Ja«, sagte Kunun leise. » Woran erinnerst du dich noch?«
Sie forschte in ihrem Gedächtnis und fand Musik, laute Musik, Tänzer und einen Wolf. » Du hast mich festgehalten.«
» Es war der richtige Zeitpunkt«, sagte er. » Wir hatten schon lange überlegt, ob du so werden solltest wie ich.«
Hatten sie das? Sie war sich nicht sicher.
» Es ist normal, dass du verwirrt bist«, sagte er. » Aber jetzt sind wir für immer zusammen. Jetzt kann uns nichts mehr trennen, Geliebte.«
Sie fröstelte. Ihre Oberarme waren kühl, und auch die Hand, die er ihr beruhigend auf die Schulter legte, fühlte sich kalt an. Dort gehörte sie hin, auf ihre Haut. Es war richtig so– daran wenigstens erinnerte sie sich genau, an seine Hände und seine Küsse und die zärtliche Stimme.
» Schlaf weiter«, sagte er. » Wir müssen nicht schlafen, aber es wird dir guttun. Deine Gedanken werden sich ordnen, und morgen weißt du wieder alles.«
Sind wir zusammen?, hätte sie am liebsten gefragt. Aber sie wollte ihn nicht verletzen, und mit dieser Frage hätte sie es bestimmt getan. So wie er mit ihr sprach, waren sie ein Paar. Sie lagen in einem Bett, natürlich waren sie zusammen. Warum war sie bloß so durcheinander? In ihrem Hinterkopf tobte eine Stimme, die unablässig schrie: Tut ihm nicht weh! Alles, nur lasst ihn in Ruhe. Tut ihm nichts!
Das war ihre eigene Stimme.
Weitere Kostenlose Bücher