Der Traum des Schattens
oder gar schuldbewusst war. In diesem Moment war sie Réka, der Schatten. Réka, die in diesem Schloss gewohnt hatte und sich hier bestens auskannte. Réka, deren scharfe Ohren die Schritte der Wächter und das Huschen von Wolfspfoten wahrnahmen, bevor diese um die Ecke bogen. Sie fingerte einen Schlüssel aus einer Mauerritze, schloss eine unscheinbare Tür auf und stieß ihre Mutter über die Schwelle.
» Réka, was soll denn das?«, fragte Mónika verärgert. » Jetzt reicht es mir aber langsam.«
» Ich hole dir eine Lampe, versprochen. Gleich.« Sie überlegte fieberhaft. » Die Pforten da unten… Nein, sie werden uns sehen. Wir kommen nicht einmal in die Nähe eines Tors. Überall sind Schattenwölfe. Mein Gott, Mama, warum bist du bloß hier, ausgerechnet heute!«
» Dürfen Mütter sich etwa nicht amüsieren?«, verteidigte Mónika sich. » Sich einmal im Jahr hübsch fühlen und Spaß haben?«
» Aber doch nicht in Akink! Weißt du denn nicht, was hier abgeht? Heute werden schlimme Dinge passieren… Oh nein, ich muss dorthin, ich muss wissen, wie es ausgeht! Bleib hier, Mama. Versprich mir das!«
» Ich soll in diesem dunklen Keller warten, statt zu tanzen? Ich habe mir extra neue Schuhe gekauft! Auch wenn du mir böse bist, weil dein Vater und ich uns getrennt haben…«
» Darum geht es doch gar nicht«, unterbrach Réka hastig. » Es geht um Leben und Tod. Du musst mir vertrauen. Bitte, tu einmal im Leben das, was ich sage! Ich bin gleich wieder da.«
Sie huschte in das von zahlreichen Laternen erleuchtete Treppenhaus, nahm eine Lampe vom Haken und kehrte in die kleine Kammer zurück.
» Hier, jetzt hast du Licht.« Die großen, erschrockenen Augen ihrer Mutter flößten ihr Schuldgefühle ein. » Ich werde dich einschließen, das ist das Sicherste. Mach um Himmels willen keinen Lärm, Mama. Bitte! Ich hole dich hier raus, sobald ich mich umgesehen habe. Womöglich müssen wir ein paar Stunden warten, bis das Schlimmste vorbei ist. Versprich mir, dass du keinen Ton von dir geben wirst!«
Mónika schüttelte verwundert den Kopf. » Ich verlange, dass du mir das erklärst.«
» Später, versprochen.« Réka schob die Tür zu und schloss ab. Wenn ihr etwas passierte, würde niemand wissen, wo Mónika eingeschlossen war, aber wenn keiner ihre Mutter befreite, würde sie irgendwann Alarm schlagen. Die Schatten konnten durch Wände gehen, sie brauchten keinen Schlüssel.
Réka atmete tief durch, als könnte es ihr Kraft geben. Luft holen, sich beruhigen. Die alten Gewohnheiten waren mittlerweile sinnlos, aber ein wenig halfen sie dennoch. Hanna war bestimmt längst zu den Verliesen unterwegs, wenn keiner sie aufgegriffen hatte. Sollte sie ihre Freundin dort suchen? Hoffentlich hatte niemand sie in den Tanzsaal zu den Schattenwölfen gebracht. Wenn sie gebissen wurde… Nein, bloß das nicht!
Schreie wiesen Réka den Weg. Die Wölfe hatten mit der Arbeit begonnen.
Hannas rasendes Herz schien ihr vorausrennen zu wollen. Überall waren Schatten. Und Wölfe. Dennoch hielt niemand die beiden jungen Frauen auf. Mirita in ihrer Wächteruniform war wie eine Freikarte überallhin, niemand sprach sie an, alle hielten sie für berechtigt mitzunehmen, wen immer sie wollte.
Vermutlich denken sie, ich sei ihr kleiner Imbiss …
Hanna versuchte gerade, ihr angespanntes Gesicht etwas aufzulockern, als einer der anderen Wächter ihr einen kritischen Blick zuwarf.
» Na, Mirita, auch endlich bekehrt?«
Die blonde Flusshüterin warf kokett den Kopf zurück. » Hat das Duell schon angefangen?«
» Ich glaube schon«, sagte der Mann.
Mirita winkte einen der Wölfe an ihre Seite. Er war nicht so groß wie Bela und auch nicht so schön wie Wilder, Mattims Wolfsbrüder, mit denen Hanna eine innige Freundschaft verband. Dieser dunkelgraue Schattenwolf war ihr fremd, dennoch war Hanna fast schwindlig vor Erleichterung, dass sie ein Tier gefunden hatten, das bereit war, ihnen zu helfen. Nun gewannen sie Zeit und konnten gleich alle zusammen nach oben gehen. Die Angst um Mattim hatte sich in ihrem ganzen Körper ausgebreitet, bis in den kleinen Finger war sie betäubt von der Intensität ihrer Furcht und ihrer Liebe. Um sich selbst sorgte sie sich nicht. Die Entscheidung war gefallen. Es bedeutete nichts, gar nichts. Nur Mattim zu retten war wichtig.
» Die Stufen da hoch.« Mirita blieb hinter ihr.
Hanna hetzte hinauf und riss die Tür auf. Dahinter lag die Empore.
Hastig blickte sie sich um. Unten spielte die
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