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Der Traum des Schattens

Der Traum des Schattens

Titel: Der Traum des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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Hatte sie Kunun damit gemeint? War er es gewesen, den sie hatte beschützen, für den sie hatte alles geben wollen? Hanna war sich nicht sicher, aber wer hätte es sonst sein sollen? Nein, sie würde Kunun nicht fragen. Er war viel verletzlicher, als alle dachten.
    Sie erinnerte sich daran, wie er sie im Arm gehalten hatte, an seine Lippen auf ihrer Haut, so zärtlich.
    Ich bin gekommen, um dir zu huldigen, König.
    Sie war sich ziemlich sicher, dass sie diesen Satz zu ihm gesagt hatte, bevor sie in das Loch gestürzt war, in dem die Dinge durcheinandergeraten waren.
    Hast du Angst?
    Nein.
    Hanna ließ sich wieder ins Kissen zurücksinken. Allmählich bekam sie alles zusammen. Das Fest, die Krönungsfeier, ein Fest der Verwandlung. Natürlich, sie hatte gewusst, dass sie an jenem Abend zum Schatten werden sollte. Sie war die Treppe hochgelaufen, um nicht zu spät zu kommen. Mirita war bei ihr gewesen und ein Wolf. Kunun hatte schon gewartet.
    Dann war es geschehen. Die Verwandlung– genau das, was sie erwartet hatte. Sie war damit einverstanden gewesen, und als der Wolf erschienen war, hatte sie sich nicht gefürchtet.
    Dein Kopf ist wenigstens nicht beschädigt, dachte sie. Auch wenn dieser Druck in der Brust seltsam ist. Wie Phantomschmerzen von einem Herzen, das amputiert worden ist.
    Sie tastete über der Decke nach Kununs Hand.
    » Meine Schattenprinzessin«, flüsterte er, und seine Stimme klang zugleich freudig und ungläubig.
    » Es sieht nicht gut aus in der Stadt, einen solchen Sommer hatten wir noch nie.«
    Bartók schloss die Tür hinter sich ab, in der Hand balancierte er einen Teller. » Bitte sehr, wünsche angenehm zu speisen.«
    Mattim begutachtete das Essen: Würstchen und Brot. Nicht sehr einfallsreich, aber was konnte er erwarten? Das hier war kein Restaurant und dieser Keller kein Hotelzimmer.
    Er zähmte seinen Ärger, als er zu sprechen anhob. » Bartók… Sie müssen mich hier rauslassen.«
    » Ich wünschte, ich könnte. Aber diese eine Nacht wirst du es wohl aushalten.«
    Der Kommissar kam bewaffnet in sein muffiges Verlies. Er brachte ihm nicht nur das Frühstück, sondern jede Menge Gedanken, die er seinem Gefangenen mitteilen wollte, und ein schlechtes Gewissen. Letzteres stand ihm so deutlich ins Gesicht geschrieben, dass Mattim fast Mitleid mit ihm hatte.
    » Also gut«, sagte er. » Reden wir über die Stadt. Was ist los? Was stimmt nicht mit ihr?«
    » Alles«, gab Bartók zurück. » Alles ist komisch. Die Luft riecht anders, das Licht ist seltsam. Sommersmog ist normal, aber das hier… wie eine Glocke über der Stadt. Es riecht nicht nach Abgasen, sondern nach Wald und Erde, nach Blumen und Blättern. Vorhin bin ich durch eine Jasminwolke gegangen, aber weit und breit war kein Blütenstrauch zu sehen. Wenn es nicht völlig verrückt wäre, würde ich sagen, es riecht nach… Träumen. Dieser komische Nebel wird immer dunkler, immer dichter. Was auch immer es ist.« Ratlos schüttelte er den Kopf. » Menschen verschwinden, aber es stört kaum jemanden. Wie viele werden täglich vermisst gemeldet? Wenig später wird die Meldung dann wieder zurückgezogen. Überall finden wir ausgeblutete Tote, aber kaum jemanden erschreckt das noch besonders.«
    » Das ist Kunun«, sagte Mattim. » Ich weiß nicht wie, und ich weiß nicht warum, aber wer könnte es sonst sein?«
    » Die Vermissten und die Toten– ja, darüber brauchen wir nicht zu diskutieren. Diese dunkle Glocke über der Stadt dagegen? Bosheit ist nicht stofflich, Mattim. Das kann einfach nicht sichtbar sein. Außerdem hat es sogar etwas Angenehmes, etwas Vertrautes. Als würde man sich umdrehen und feststellen, dass man verfolgt wurde… aber derjenige, der hinter einem geht, ist ein lange vermisster Freund. Ergibt das irgendeinen Sinn? Ich wache morgens auf und bin mir nicht sicher, ob ich wirklich aufgewacht bin. Was ist hier los, Mattim? Kollektiver Wahnsinn? Träumen wir alle denselben Traum?«
    » Wie soll ich das herausfinden, wenn ich hier eingesperrt bin? Lassen Sie mich gehen. Ich muss Hanna suchen.«
    » Mach es mir nicht noch schwerer, als es sowieso schon ist«, bat Bartók. » Ich tue das nicht gerne. Mensch Junge, ich habe dir geholfen! Ich war bereit, mein Leben zu riskieren, damit du entkommst, damit du deinen Kampf weiterführen kannst. Weil du vermutlich der Einzige bist, der das überhaupt kann, der diesen… diesen…« Er suchte nach einem Wort, das sein Entsetzen einzugrenzen vermochte. » Diesen Vampir

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