Der Traum des Schattens
perfektioniert hatte.
11
AKINK, MAGYRIA
Kunun saß in seinem Zimmer im Dunkeln.
» Ihr habt mich rufen lassen?«, fragte die Frau an der Tür leise.
» Komm rein«, befahl er.
Sie gehorchte. Leise schloss sie die Tür hinter sich, dann stand sie zögernd herum. Er wartete darauf, dass sie von selbst näher kam, ohne dass er sie dazu aufforderte, aber natürlich geschah das nicht. Er hatte seine Arbeit zu gut gemacht.
» Es ist spät«, sagte er leise. » Die Nacht zieht herauf. Hast du eine Geschichte für mich?« Lautlos fügte er noch ein Wort hinzu: » Mutter.«
» Eine Geschichte?«, meinte sie erfreut. » Wie gerne ich Geschichten erzähle. Was wollt Ihr hören? Die von dem Wolf und dem Mädchen? Davon, wie sie die Welt zerstört und sie wieder geheilt haben?«
» Ja«, sagte er. » Genau diese Geschichte. Wie immer.«
Elira blieb an der Tür stehen. Er hätte sie rufen mögen, näher zu sich, doch sie hielt sich für eine Dienerin, die ihren Platz kannte. Machte es denn überhaupt einen Unterschied? Auch wenn sie gewusst hätte, wer sie war, hätte sie so viel Distanz zwischen sich und ihm gelassen, dass die Kluft unüberbrückbar blieb. Auf diese Weise, gemildert von ihrer Ahnungslosigkeit, war es wenigstens erträglicher.
» Es ist immer dasselbe«, sagte sie, und ein wenig königlicher Trotz schimmerte durch, der ihn beinahe erheiterte. » Ich kann der Geschichte kein anderes Ende verpassen, auch diesmal nicht. Schließlich bin ich nur Putzfrau, keine Märchenerzählerin. Die Geschichte ist, wie sie ist, und Punkt.«
» Ich höre«, flüsterte er.
» Eine Geschichte«, sagte sie. » Die alte, immer dieselbe. Endet sie je? Einer der Wölfe wurde erlöst, was geschah mit den anderen? Was geschah mit den Kindern des Lichts? Er trat vor sie hin, der Erlöste. Er, der wieder ein Mann war, an seiner Seite das Mädchen. Er rief seinen Kindern zu: › Lasst die Wölfe über den Fluss kommen, zu euch.‹ Aber sie wollten nicht, denn sie fürchteten sich noch immer. Ihre Angst war so groß, dass sie ein eigenes Gesicht hatte. Da belegte er sie mit einem Fluch, aber vielleicht war es gar kein Fluch, sondern nur die Konsequenz aus dem, was sie waren und was sie nicht sein konnten. › Ich gebe euch Zeit‹, sagte er, und so hatten sie ein langes Leben, ein viel längeres als andere Menschen, denn er wünschte sich, dass sie diesen einen Schritt wagten, auf ihre verlorenen Brüder und Schwestern zu. Er hegte die Hoffnung, dass sie es schafften, bevor der Tod sie holte, der einem den Weg unter den Füßen wegzieht. › Ihr werdet immer Kinder sein, solange ihr es nicht fertigbringt, euren Schatten zu umarmen‹, sagte er, deshalb alterten sie langsamer als andere, und jeder Mann behielt immer etwas von einem Jungen, bartlos, knabenhaft.«
» Ich dachte immer, unser langes Leben wäre ein Segen«, flüsterte Kunun. » Also ist es ein Fluch?«
» Es ist eine Chance. Bloß eine Chance, sonst nichts. Nur ein Zeugnis davon, wie stur und erbarmungslos die Familie des Lichts ist und dass selbst hundert Jahre dahingehen wie im Flug, ohne dass sich etwas ändert.«
Er nickte. » Alles bleibt, wie es ist. Sie halten ihre Hartherzigkeit für Gerechtigkeit. Das Licht fault von innen heraus. Sie sind verflucht, ohne es zu wissen. Das ist…«, er zögerte, suchte nach dem passenden Wort, » tragisch… und schön zugleich. Ja, auf eine gewisse Weise ist es wunderschön. Sie sind eingemauert in sich selbst, unfähig zur Veränderung. Dass sie im Grunde wie Schatten waren, bevor sie wussten, dass es so etwas gibt, und selbst danach noch glaubten, sie wären etwas Besseres! Vielleicht ist es ihre Arroganz, die mich am meisten wütend macht. Ihre Arroganz und ihre Blindheit.«
» Möchtet Ihr noch mehr hören?«, fragte die Königin, die sich für eine Putzfrau hielt.
» Wir werden einander begegnen, in der Finsternis«, sagte Kunun leise. » Wir alle. Jedenfalls dachte ich immer, es würde eines Tages so kommen. Warum sind die Träume, die wir träumen, nicht wiederzuerkennen, sobald wir sie in die Realität hinüberzerren?«
» Weil sie zerreißen«, wisperte die Königin. » Träume sind wie Spinnweben. Tu ihnen Gewalt an, und sie zerstieben. Betrüg sie, und sie kommen als deine schlimmsten Albträume zurück.«
» Wie machst du das, dass du immer so weise klingst, egal was für einen Unsinn du redest?«, fragte er, und sein Lachen geriet kläglich. Die Sehnsucht danach, die Hände nach ihr auszustrecken, wurde
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