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Der Traum des Schattens

Der Traum des Schattens

Titel: Der Traum des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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Gesicht ließen sich nicht vollständig verbergen. Dafür musste sie ihn hassen, eitel, wie sie war.
    Er wandte sich ihr zu. » Bestimmt möchtest du mir am liebsten den Hals umdrehen. Hat Kunun es dir verboten?«
    Atschorek lächelte seidig. » Er ist der König. Du hast Glück, dass ich so gehorsam bin. Außerdem«, fügte sie etwas leiser hinzu, » gibt es andere Möglichkeiten, jemanden zu bestrafen. Der Tod ist so schnell und so… kurz.«
    Ihn fröstelte. » Also habt ihr euch etwas anderes für mich ausgedacht. Hat es etwas mit dieser Einladung zu tun?«
    » Du musst kommen«, sagte sie freundlich. » Du hast keine Wahl. Wenn du fliehst oder dich versteckst, könnte es Kunun einfallen, den Plan zu ändern. Ich verspreche dir nicht zu viel, wenn ich sage, dass es die Sache nur noch schlimmer machen würde.«
    » Für wen?« Mattim war nicht so dumm, nach dem Plan zu fragen.
    Atschorek sonnte sich in ihrer Überlegenheit. » Ach, lass uns das Thema wechseln. Wie geht es dir, kleiner Bruder? Zeigst du mir deine Narben? Ich möchte zu gerne wissen, wo ich dich damals am Fluss getroffen habe. Ich halte mich eigentlich für eine hervorragende Schützin.«
    Wenn es ihr Spaß machte, bitte schön. Mattim hatte es längst aufgegeben, aus Atschorek schlau zu werden. Er legte seine Jacke über die Sofalehne und zog sich das T-Shirt über den Kopf. Fasziniert betrachtete seine Schwester die Narben auf seiner Brust und tastete erschauernd über seine Rippen.
    » So nah dran… so unglaublich nah.«
    » Du bist ziemlich gut.«
    » Ja, nicht wahr?«
    Einen Moment standen sie dicht voreinander, und sein Blick fiel auf ihre Narbe, ein unauslöschlicher Makel in ihrer glatten Haut. Das war das Schicksal eines Schattens: nicht zu sterben, aber auch nicht zu heilen. Nie. Jeder von ihnen war eingefroren in einen Augenblick, ein Wanderer durch die Ewigkeit.
    » Beneidest du mich?«, fragte er leise.
    Sie fuhr zurück. » Nein, tu ich nicht! Ich wäre längst gestorben, wenn ich kein Schatten geworden wäre. Wäre alt geworden und runzlig und krank… und tot.«
    » Der Familie des Lichts ist ein längeres Leben vergönnt als normalen Menschen, hast du das vergessen?«
    » Besitzt du dieses Privileg immer noch?«, fragte sie zurück. » Was bist du überhaupt, nach deinen ganzen Verwandlungen? Ein ganz normaler Mensch, der in fünfzig Jahren zusammenbrechen wird, halb blind und taub und was weiß ich noch alles?«
    Er machte sie nicht zu seiner Verbündeten, indem er schmerzhafte Wahrheiten aussprach, trotzdem sagte er: » Wie einsam du sein musst, Atschorek. Ist es nicht tausendmal besser, zu leben und zu atmen und die Krankheiten hinzunehmen, die zum Menschsein dazugehören? Ein Leben voller Unwägbarkeiten, voller Risiko, kurz, aufregend und…«
    » Spar dir deine Weisheiten«, unterbrach sie ihn schroff. » Jeder will unsterblich sein, wenn er die Wahl hat.«
    » Ach«, meinte er. » Jetzt verstehe ich.«
    » Was?« Sie warf den Kopf zurück.
    Er streifte sich das Shirt wieder über. » Warum ihr so viele Schatten erschafft. Die ganze Stadt wimmelt von ihnen. Ich nehme nicht an, dass ihr Schattenwölfe herbringt? Also führt ihr die Menschen durch die Pforten und verwandelt sie in Magyria– um ihnen Unsterblichkeit zu schenken. Das ist wirklich sehr nobel, Atschorek, ich bin gerührt. Es ist unglaublich… ähm… großzügig, eure Schattenherrlichkeit mit der ganzen Menschheit zu teilen.«
    Sie funkelte ihn böse an.
    » Ich bin noch aus einem anderen Grund hergekommen.« Mattim griff nach seiner Jacke und holte die Steine aus der Tasche.
    » Was ist das?«
    » Das frage ich dich. Eine Mauer aus Akink, mitten auf der Straße– ist das euer Werk?«
    » Ich weiß nicht, wovon du redest.«
    » Anscheinend bist du wirklich nicht oft auf dieser Seite, denn wie ich aus zuverlässiger Quelle weiß, ist das Stadtgespräch Nummer eins. Erst Steine, die vom Himmel fallen, dann Verletzte und Tote und jetzt die ominöse Mauer.«
    Er steckte die Bruchstücke wieder weg.
    » Ich gehe. Sag mir nur, welcher Schatten mich durch die Pforte bringt, wenn ich der Einladung Folge leiste. Die Auswahl an Leuten, die ich fragen könnte, ist nicht gerade groß.«
    » Wenn du willst, mache ich es«, sagte Atschorek, aber sie klang auf einmal unsicher, als fürchtete sie, er könnte ablehnen. » Du kannst auch gerne wieder bei mir wohnen.«
    » Lieber würde ich verrecken«, erklärte er in demselben freundlichen Tonfall, den auch Atschorek

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