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Der Traum des Schattens

Der Traum des Schattens

Titel: Der Traum des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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Niemand beobachtete ihn. Falls doch, merkte er es jedenfalls nicht. Schatten atmeten nicht. Sie konnten durch Wände gehen, durch Dunkelheit… Was wusste er schon davon, wo sie sich versteckten, falls sie hinter ihm her waren?
    Er riss das Kuvert auf und holte eine Karte heraus, aus edlem, dickem Papier. Die Buchstaben irritierten ihn einen Moment lang, dann merkte er, dass er auf die falsche Weise versuchte, sie zu lesen. Es waren gar keine Buchstaben, sondern Runen, jene Schrift, die er in Magyria gelernt hatte.
    Er hatte eine Einladung bekommen, zu einem Fest im großen Saal im königlichen Schloss, in zehn Tagen. Unterzeichnet vom König selbst.
    Ob Atschorek das geschrieben hatte? Oder beschäftigte Kunun einen Hofschreiber? Nur der Name darunter stammte von seinem Bruder, eine einzige Rune: König.
    Was für ein Hohn!
    Mattim zerknüllte die Karte in der Hand.
    Wie konnte Kunun es wagen, ihn zu einem Fest einzuladen, nach allem, was geschehen war? Wollte er ihm seinen Triumph vorführen, die grandiose Dunkelheit, die über sie alle gekommen war? Wollte er seinen Feind damit demütigen, dass er der legitim gekrönte König über Akink und ganz Magyria war, der über sie alle herrschte und tun konnte, was ihm beliebte?
    Eine Weile stand Mattim da und versuchte das Atmen nicht zu vergessen. Der Schmerz in seiner Brust erinnerte ihn qualvoll daran, dass er lebte. Mit fast übermenschlicher Anstrengung zwang er die Wut zurück.
    Eine Einladung. Niemand schlug eine Einladung des Königs aus, absolut niemand. Was sollte er tun? Weglaufen? Sich verstecken? Wie denn? So wachsam er auch gewesen war, er hatte nicht einmal gemerkt, dass jemand sie ihm zugesteckt hatte. Die Schatten würden ihn finden, egal wo er sich versteckte. Es gab kein Entkommen.
    Mühsam strich er die Karte wieder glatt, denn er würde sie vorzeigen müssen. Er betrachtete die Unterschrift des Königs. Wie lange war es her, dass er auf einem Empfang im Schloss gewesen war? Jahrhunderte, seinem Gefühl nach. Erinnerungen aus einem anderen Leben.
    Atschoreks graue, verwitterte Villa war im Dunst beinahe unsichtbar. Seine Schwester blickte ihm schon vom Eingang aus entgegen, als er das Gatter öffnete; offensichtlich erwartete sie ihn. Ihr Gesicht hellte sich auf, sie schien sich aufrichtig zu freuen, ihn zu sehen.
    » Der verlorene Sohn.« Sie umarmte ihn und rieb die Nase an seinem Hals.
    » Lass das.« Er schob sie von sich.
    » Du riechst… ungewöhnlich. Nicht so, wie man es in dieser Welt erwarten würde. Nicht nach der überwältigenden Energie der Menschen hier und dennoch anders als ein normaler Magyrianer. Ich hätte gewiss nicht versucht, dich zu verwandeln, wenn ich früher an dir geschnuppert hätte.«
    » Du wirst demnächst ein Wolf«, sagte er trocken. » Stell dich darauf ein.«
    » Was? Das kann überhaupt nicht sein!«
    » Reden wir nicht darüber. Erklär mir lieber, was es damit auf sich hat.« Er wedelte mit der Karte. » Seltsamerweise kann ich mir kaum vorstellen, dass euch auf einmal die Sehnsucht nach mir überwältigt hat. Was ist los, Atschorek? Gestern noch hattet ihr es unglaublich eilig, mich aus Magyria rauszuschaffen, und jetzt soll ich zurückkommen, zu einem Fest? Gestern wolltest du mich in einen Wolf verwandeln, heute bin ich auf einmal wieder ein Mitglied der Familie, und du verzichtest sogar darauf, auf mich zu schießen?«
    » Du bist unser Bruder.« Sie klang aufrichtig schockiert. » Wir würden dich niemals erschießen!«
    » Ach nein?« Er lachte und schüttelte den Kopf.
    Sie ließ ihn vorbei, und fast rechnete er damit, im Wohnzimmer Kunun anzutreffen, der irgendeine Teufelei vorbereitet hatte. Doch alles war still. Auf dem langen Esstisch zeugten noch die Überreste von einer Feier, benutzte Gläser und Geschirr, das niemand weggeräumt hatte.
    Atschorek zuckte die Achseln. » Ich bin selten hier. Unser Leben spielt sich vor allem in Akink ab.«
    » Leben«, wiederholte Mattim verächtlich.
    Er blieb vor dem Kamin stehen, der leer und kalt war. Das ganze Haus kam ihm kühl vor, trotz der drückenden Sommerhitze draußen.
    Wo ist Hanna? Was habt ihr getan? Tausend Fragen lagen ihm auf der Zunge, aber er wagte nicht, sie zu stellen. Kunun und Atschorek konnten gar nicht anders– sie mussten ihre Überlegenheit immer ausspielen. Er wunderte sich, dass er noch lebte, nach dem Vorfall auf dem Heldenplatz, als er ein ganzes Rudel Wölfe auf Atschorek und ihre Begleiter gehetzt hatte. Die Spuren in ihrem

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