Der Traum des Schattens
du das sagen? Nein, das sind wir nicht– jedenfalls nicht, wenn du an die Art Blutsauger denkst, über die man sich in deiner Kultur lustig macht. Wir sind Schatten, aber wenn du es auf ein schlichtes Wort reduzieren willst, das dein armseliges Gehirn begreifen kann, dann darfst du uns tatsächlich Vampire nennen.«
Réka hielt ihre Freundin am Arm fest, und als sie sprach, hörte Hanna die verzweifelte Entschlossenheit in ihren Worten. » Du wirst mir dankbar sein. Oder nein, du wirst es… vergessen haben, was noch besser ist. Beiß sie, Hanna. Ich will nicht, dass sie verwandelt wird.«
Zärtlich strich Kunun ihr eine Haarsträhne von der Wange. » Tu es, mein Schatz.«
» Ich… ich weiß nicht.« Hanna machte einen zögernden Schritt auf die beiden Mädchen zu. Etwas war anders an Réka… Hatte sie nicht beim letzten Mal noch einen roten Fleck auf der Wange gehabt? Valentina lenkte Hanna ab, indem sie sich losriss und bis zur Wand zurückwich.
» Ihr seid ja verrückt, ihr alle!«, kreischte sie. » Lasst mich hier raus! Das kann doch alles nicht wahr sein!«
Hannas Unbehagen wuchs. Das war nicht richtig. Ein Schatten brauchte Blut, das ja, aber… so?
Valentina schrie in Panik auf, blickte sich hektisch um, riss die nächste Tür auf und verschwand.
» Oh nein!« Réka stöhnte auf. » Was, wenn wer anders sie erwischt? Wenn es ein Wolf ist? Oh bitte, Atschorek, du hast es mir versprochen!«
Es war auffällig, dass sie es vermied, Kunun anzusehen oder mit ihm zu sprechen.
Aufmunternd legte er ihr eine Hand auf die Schulter. » Nun denn, Hanna, das wird zu einer kleinen Herausforderung für dich. Wenn die Kleine einem Schattenwolf begegnet, entweder hier im Schloss oder draußen, falls sie es bis dorthin schafft, wird sie verwandelt werden und Atschorek kann ihr Versprechen nicht halten.«
» Bitte!« Réka war aufgesprungen und packte Hannas Hände. » Bitte! Du musst es sein, oh bitte!« Aufgebracht wandte sie sich an Kunun. » Ich hasse dich! Ich will nicht, dass meine Freundinnen Schatten sind. Sie sollen nicht so sein wie ich!« Mit offenkundiger Mühe senkte sie die Stimme. » Immer auf der Jagd, immer auf der Suche nach Beute. Sie sollen nach schönen Klamotten Ausschau halten und nach hübschen Jungs, mit denen sie flirten können, nicht nach Menschen, um sie zu beißen. Ich wünsche niemandem ein solches Leben.«
» Das ist nicht ihr Ernst, oder?«, fragte Hanna.
» Ganz gewiss nicht.« Kunun legte den Arm um ihre Schultern und drückte sie leicht an sich.
Sofort wich Réka ein paar Schritte zurück, sie schien jeden Moment in Tränen auszubrechen.
» Du musst das nicht tun, Hanna«, sagte er. » Ich hatte gehofft, es würde beim ersten Mal einfacher für dich sein. Als ich dich hergeführt habe, dachte ich, einen Freiwilligen hier vorzufinden. Aber wenn es so geschehen muss, auf diese Weise – warum nicht? Das Mädchen wird es sowieso vergessen.«
» Na gut.« Hanna nickte. Einen Moment lang war sie noch unschlüssig. Das betrunkene Schwanken in den Beinen und im Kopf verlieh allen Dingen eine verführerische Leichtigkeit. Beißen oder es sein lassen, es spielte keine Rolle. » Dann… mache ich mich mal auf den Weg.«
Sie trat über die Schwelle und fand sich in einem stillen Gewölbe wieder. Von Valentina keine Spur. Sollte sie sich nach rechts wenden oder nach links? Ein Kribbeln lief durch ihre Glieder. Das hier war um einiges spannender, als sie erwartet hatte. Es fühlte sich an wie ein Spiel.
Hanna fiel in einen leichten Laufschritt und gelangte an eine weitere Treppe. Sie horchte: nichts. Also hätte sie sich doch gleich nach links wenden sollen. Auf dem Rückweg war sie schneller. Rasch merkte sie, dass sie überhaupt nicht müde wurde. Kein Seitenstechen, keine Atemnot, sie schwebte dahin, mühelos. Die Kraft in ihren Beinen war berauschend. Auch an diesem Ende des Gewölbes führte eine Treppe zu den anderen Stockwerken. Hanna wählte den Weg nach unten, da sie annahm, dass Valentina versuchte, aus dem Gebäude zu entkommen. Eine Etage tiefer sah sie sich um. Die beiden Wächter, die sich leise unterhielten, verstummten abrupt, als sie Hanna bemerkten.
» Ist hier ein Mädchen vorbeigekommen?«
Der eine zeigte den Flur entlang. Hanna rannte über den gemusterten Läufer und spähte in die offenen Räume zu beiden Seiten. Alles war still, und es war zu dunkel, um irgendetwas erkennen zu können. Ich sollte immer eine Taschenlampe dabeihaben, dachte sie, bis meine
Weitere Kostenlose Bücher