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Der Traum des Schattens

Der Traum des Schattens

Titel: Der Traum des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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Schatten. Atschorek hatte ihn freigelassen, also war im Moment niemand hinter ihm her. Das war in gewisser Weise schlimmer, als gejagt zu werden– was immer Kunun in der vergangenen Nacht hatte tun wollen, er hatte es getan.
    Attila war das nur recht. Während sie in der Straßenbahn saßen, redete er in einem fort auf den Prinzen ein, und am Ende wusste dieser genauestens Bescheid über sämtliche Lehrerinnen, Mitschüler, die nervigen Mädchen, die Wohnung und die komischen Nachbarn, außerdem über die Trennung seiner Eltern, dass Réka nie zu Besuch kam und überhaupt. Mattim rieb sich die Ohren und blickte sich unauffällig um. Es waren viel zu viele Schatten in Budapest unterwegs. Er erkannte sie sofort, an ihrer Aura von Dunkelheit, von Verlorenheit. Als ehemaliger Flusshüter von Magyria war er sich manchmal nicht sicher gewesen, ob er Menschen oder Schatten vor sich hatte, doch nach seinen eigenen Erfahrungen als Verwandelter bemerkte er die kleinen Anzeichen. Wie jemand seinen Hals berührte, auf seinen eigenen Atem horchte. Wie Blicke ins Leere stierten oder wie Köpfe sich zum Himmel wandten. Ist die Sonne schon zu stark? Ist diese Smogwolke dicht genug? Habe ich ausreichend viel Blut getrunken, oder werde ich verbrennen?
    War er auch so gewesen, als wäre er auf der Flucht, überrascht von sich selbst? Hatte er so verwirrt gewirkt wie der Mann dort drüben, der unablässig blinzelte, als hoffte er, aus einem Albtraum zu erwachen? Der Fremde richtete den Blick auf Mattim, starrte ihn einen Moment prüfend an– Beute?– und schaute wieder aus dem Fenster.
    Nahezu jeder zweite Passant war ein Schatten. Sie stammten nicht aus Magyria. Das hier waren Menschen dieser Welt gewesen. Sie waren neu in ihrer Existenz, dafür kannten sie sich in Budapest aus. Er betrachtete ihre Kleidung, ihre Taschen, ihr Benehmen– nein, das waren ganz bestimmt keine Magyrianer.
    » Was hast du getan, Kunun?«, fragte Mattim leise. Er war doch gar nicht so lange weg gewesen. Wie hatte sich die Welt so erschreckend verändern können– unwiderruflich?
    » Warum halten wir hier und müssen raus?«, fragte Attila, als die Straßenbahn nicht wieder anfuhr. Mattim hatte gar nicht auf die Lautsprecherdurchsage geachtet. » Das ist zwei Stationen zu früh.«
    Mit den anderen Fahrgästen, die verwirrt vor sich hin schimpften, stiegen sie aus und gingen zu Fuß weiter. Auch auf den Straßen staute sich der Verkehr. Hatte es einen Unfall gegeben? Je näher sie der Schule kamen, umso größer wurde das Chaos.
    » Polizei«, staunte der Junge. » Sogar ein Kran und ein Bagger. Da ist eine Mauer mitten auf der Straße. Oh nein!« Er schlug sich vor die Stirn. » Nicht schon wieder.«
    » Kommt das öfter vor?« Mattim betrachtete die hüfthohe Mauer, die die Straße versperrte und in den Gärten zu beiden Seiten verschwand. Die Schulkinder standen da und beobachteten staunend, wie die schweren Maschinen das Hindernis einrissen. Eine Mauer aus groben, alten Steinen. Sandstein? Die Passanten diskutierten lautstark über diesen Streich, quer über einer Straße eine Mauer zu errichten. Mattim hörte ihnen nur mit halbem Ohr zu. Keine Sekunde zweifelte er daran, dass dies eine Teufelei war, die Kunun zu verantworten hatte.
    » Ich habe gehört, wie die Nachbarn darüber reden«, erzählte Attila. » So was passiert andauernd. Die Krankenhäuser sind voll von Leuten, denen Steine auf den Kopf gefallen sind.«
    Mehrere Bauarbeiter rissen die Ziegel herunter und transportierten sie zur Seite. Endlich wurde die Straße wieder freigegeben, und Attila stürzte zu seinen Freunden und den wartenden Lehrern.
    Mattim kniete nieder und sammelte ein paar übriggebliebene kleinere Gesteinsbrocken auf. Sie fühlten sich rau an, und ihm war, als könnte er ihr Alter spüren. » Akink«, flüsterte er. Nun, das hatte er sich bereits gedacht. Er kannte diese gelblichen Steine zu gut, um sich zu täuschen.
    Von hier aus war es nicht weit zu Atschoreks Villa. Seine Schwester konnte ihm vielleicht sagen, was in der vergangenen Nacht geschehen war. Réka hatte sich nicht getraut, Atschorek dagegen würde sich nicht zurückhalten, wenn es schlechte Nachrichten zu verkünden gab. Während er den Hügel hinaufmarschierte, schob er die Hände in die Taschen und fand einen Briefumschlag darin. Jemand musste ihm das Schreiben im Gedränge zugesteckt haben.
    Ein weißer Umschlag, kein Name darauf, nichts.
    Mattim blieb auf dem Bürgersteig stehen und schaute sich um.

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