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Der Traum des Schattens

Der Traum des Schattens

Titel: Der Traum des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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übermächtig. » Hast du so deine Kinder erzogen, mit wohlgemeinten Sprüchen ohne Bedeutung? Dabei warst du alles andere als weise. Du warst wie sie, wie sie alle… Komm her.«
    Sie setzte einen Fuß behutsam vor den anderen, als wäre der Boden so glatt, dass sie ausrutschen könnte.
    » Willst du nicht…« Er wusste nicht, wie er fragen sollte, ohne dass seine Verzweiflung zu hören war, die Sehnsucht, die ihn innerlich verbrannte. » Willst du mir nicht die Hand auf die Schulter legen? Nur ganz kurz?«
    » Warum?«, fragte sie.
    » Du könntest dir vorstellen, ich wäre dein Sohn.«
    Sie dachte nach. » Mir ist, als hätte ich einen Sohn«, sagte sie schließlich. » Vielleicht war es aber auch nur ein Traum. Vielleicht war es der Sohn einer anderen. Oder habe ich ihn selbst auf dem Schoß gehalten, als er klein war? Ich habe ihn eingefangen, als er einem Ball hinterherrannte. Ich habe ihn auf den Rücken eines Pferdes gesetzt und ihn festgehalten. Vielleicht war es nicht fest genug?«
    » Ja«, flüsterte er.
    » Er war ein blondes Kind«, sprach sie weiter. » Ein Kind wie eine Löwenzahnblüte, mit einem Schopf wie aus Gold.«
    Kunun heulte auf, und als sie aus dem Zimmer floh, rief er sie nicht zurück.
    Es kam Hanna vor, als hätte sie völlig die Orientierung verloren. Vielleicht hatte sich das Leben früher so angefühlt, als hätte sie festen Grund unter den Füßen, doch jetzt kam sie sich vor, als hätte man sie in einem winzigen Boot auf dem stürmischen Meer ausgesetzt. Die dumpfe Leere in ihrer Brust… daran konnte sie sich gewöhnen. Es geschah ohne ihr Zutun, dass sich ihr Körper mit diesem Zustand arrangierte. Aber das war es nicht allein. Das Auf und Ab der Wellen machte sie schwindlig– nur dass es gar keine Wellen gab.
    » Bin ich betrunken?«, fragte sie, während sie an Kununs Seite durch das Schloss schritt, die Hand auf seinem Arm, weil sich immer noch alles um sie drehte.
    » Das ist normal, das geht vorbei. Sonst geht es dir doch gut, oder?«
    Hanna betrachtete ihn von der Seite. Etwas in ihr schrak vor ihm zurück. Sein Gesicht war fürchterlich anzusehen, trotzdem hielt sich ihr Entsetzen in Grenzen. Es war ja nicht so, als wenn sie aufgewacht wäre und er sich über Nacht in ein Monster verwandelt hätte. Sie hatte gewusst, dass er verletzt worden war, bei der Schlacht um Akink, und dass sein Vater ihn gefoltert hatte. Als sie von ihrem Landaufenthalt zurückgekehrt war, hatte sie geahnt, was auf sie zukommen würde. Da war immer noch dieses Gefühl von Sehnsucht und Sorge, das sie hergetrieben hatte. Diese Sehnsucht danach, vollständig zu sein, ihn zu finden… Sie hatte ihn gefunden, hier war sie.
    Nichtsdestotrotz war alles so verwirrend, und der Boden hörte nicht auf, unter ihren Füßen zu schwanken. Sie stützte sich an einer Tür ab.
    » Nicht dorthin«, sagte er leise, und in seiner Stimme blitzte Schärfe auf, als hätte sie ein Messer berührt.
    » Was ist denn da?«
    » Nur Staub und Gerümpel. Hier entlang, meine Liebe.« Er führte sie eine Treppe hinunter. » Vielleicht ist die Verwandlung bei dir tatsächlich etwas… extrem. Dein Körper wehrt sich mehr, als er sollte. Ich schätze, es würde helfen, wenn du etwas isst.«
    Wäre diese herrliche Stimme nicht gewesen… die geschmeidigen Bewegungen… Immer wenn sie aus dem Schein der Laternen in die Finsternis tauchten und mehrere Meter im Dunkeln zurücklegten, konnte sie sich vorstellen, an der Seite eines überaus attraktiven Mannes zu sein.
    » Was soll ich denn essen?« Sie hatte keinen Hunger. » Ein Kaffee wäre bestimmt nicht schlecht. Ein Katerfrühstück.« Gerade gingen sie wieder durch einen beleuchteten Abschnitt, und sie sah, wie er den Kopf schüttelte. » So etwas gibt es hier nicht, stimmt’s?«
    » Ich habe dir etwas anderes besorgt, meine Liebe.«
    » Im Ernst?« Sie wusste, dass Schatten keine Nahrung benötigten, aber dass sie durchaus essen konnten, wenn sie wollten. Der Körper erledigte seine Arbeit, wenn er musste. Ein Schatten konnte ja auch atmen, wenn er wollte. Nur das Herz willentlich zum Schlagen bringen, das war nicht möglich. » Ich muss kein Blut trinken«, sagte sie. » Es ist nur nötig, wenn ich ins Licht will. Aber hier ist überhaupt kein Licht. Es ist Nacht, oder?«
    » Wir haben späten Nachmittag. Du hast lange geschlafen.«
    Durch die Bogenfenster konnte sie einen Blick auf ein paar angeleuchtete Mauern erhaschen. Dahinter war nichts als Schwärze. » Nachmittag,

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