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Der Traum des Schattens

Der Traum des Schattens

Titel: Der Traum des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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es spüren könnt, ist mir klar.«
    » Wie lächerlich, dass du mit einem Tier sprichst, das dir nicht antworten kann.«
    Kunun trat zwischen den Stämmen hervor, dunkel und aufrecht wie ein Baum.
    » Was machst du denn hier?«, fragte Mattim.
    » Was wohl? Ich bin unterwegs in mein Haus. Die Frage ist doch wohl eher, was du hier tust? Diesmal habe ich dich nicht eingeladen. Fürchtest du dich nicht vor Atschorek, die regelmäßig auf die Jagd geht?«
    » Atschorek wird langsamer«, sagte Mattim. » Ist dir nie aufgefallen, wie sie den Kopf hält und horcht? Wie sie die Füße aufsetzt, wenn sie durch den Wald schleicht? Sie ist keine Bedrohung für mich.«
    » Atschorek wird eine Wölfin? Du lügst«, sagte Kunun verächtlich. » Das hätte ich gemerkt. Ich sehe es kommen, ich sehe es immer kommen. Sie ist genauso weit davon entfernt wie ich.«
    » Sie zögert, mich anzugreifen, genau wie jeder Wolf in Magyria. Dich dagegen mögen die Wölfe nicht, ist dir das schon aufgefallen? Ich nenne das Instinkt. Jedes lebende Wesen schreckt vor dir zurück.«
    Kununs Stimme war nur an der Oberfläche freundlich. Sie klang kalt und herrisch. » Willst du mir etwa wieder etwas vorjammern, wegen Hanna?«
    Er würde ihm nicht zeigen, wie sehr er litt. Darauf konnte Kunun lange warten. Nie wieder wollte Mattim ihm diesen Gefallen tun.
    » Ich habe von Bäumen gehört, die an Plätzen auftauchen, wo sie nicht gepflanzt wurden. Von Mauern und Steinen, die… verschwinden.«
    Kununs Miene blieb verschlossen und rätselhaft. » Bist du fertig?«
    » Kunun, was geht hier vor sich? Antworte mir!«
    » Warum sollte ich etwas darüber wissen?«, fragte der König der Schatten zurück. » Weder Häuser noch Bäume können durch Pforten gehen, und man kann sie auch nicht mitnehmen.«
    Damit durfte Mattim sich nicht zufriedengeben. » Willst du die Menschen erschrecken? Ist es das? Reicht es dir nicht, dass du sie einen nach dem anderen in Schatten verwandelst, willst du unbedingt noch mehr Verwirrung stiften?«
    Kunun musterte ihn eine Weile unbewegt. » Du irrst dich«, sagte er kalt. » Ich habe damit nichts zu tun. Es geschieht einfach. Das ist erst der Anfang. Es gefällt dir nicht? Niemand fragt danach. Will ich es? Nein. Will ich es aufhalten? Ebenfalls nein. Was kommt, das kommt, und nun, da es so weit ist, trage ich es mit Fassung. Das solltest du auch einmal versuchen, kleiner Bruder, die Dinge mit Fassung zu tragen. Magyria stirbt, und du kannst seinen Untergang nicht aufhalten.«
    Er wandte sich zum Gehen, doch Mattim sprang vor und packte ihn am Ärmel. Mit einem heftigen Ruck riss Kunun sich los und stieß seinen Bruder gegen einen Baumstamm. Der Schmerz setzte den jungen Prinzen für einen Moment außer Gefecht.
    » Was soll das heißen, Magyria stirbt? Du lügst! Der Wald wehrt sich gegen die Dunkelheit. Er bringt neue Wesen hervor, er verändert sich, er wächst. Ja, er ist fremd, er ist mir unheimlich, aber das ist immer noch Magyria. Man kann Magyria nicht töten!«
    » Weißt du denn nicht, was Magyria ist?«, fragte Kunun.
    » Das Land, aus dem die Träume kommen«, antwortete Mattim. » Man kann es nicht auslöschen. Vielleicht kannst du es in einen Albtraum verwandeln– aber es wird sich anpassen. Immer neu. Irgendwann kommt das Licht zurück. Magyria kann darauf warten, genau wie ich.«
    Die Dunkelheit verbarg Kununs Fratze. » Das Land der Träume? Du irrst dich, Bruder. Das war einmal. Ich dachte, wenn wir nach Akink zurückkehren, wird alles heil. Licht heilt die Wunden, die die Finsternis aufgerissen hat. War das nicht alles, woran ich geglaubt habe? Doch dem ist nicht so. Licht und Finsternis löschen sich gegenseitig aus. Am Ende bleibt nur das Nichts übrig. Du denkst, wir sprechen über Träume? Magyria ist der Schrecken der Nacht und das Entsetzen, wenn man entdeckt, dass Dinge geschehen sind, die nie wiedergutzumachen sind. Magyria ist Wahnsinn. Es ist ein Geschwür, das sich durch die Wirklichkeit frisst.«
    Mattim konnte nicht fassen, was er da hörte. » Du bist wahnsinnig, nicht dieses Land. Du bist der König! Es ist deine Pflicht, es zu lieben. Alles zu tun, um es zu retten!«
    » Wenn der Fluss erlischt, wird alles auseinanderbrechen«, sagte Kunun.
    In seiner Stimme lauerte ein Gefühl, das Mattim nicht einfangen konnte. War es letztendlich doch Bedauern?
    » Wenn Magyria nicht mehr existiert, wird endlich Ruhe einkehren. Du solltest dich darauf einstellen. Es handelt sich nur noch um wenige Wochen

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