Der Traum des Schattens
wird Mattims Hass derart anstacheln, dass er gar nicht anders kann, als alles zu geben, um Hanna zu rächen.«
» Wenn er es herausfindet, könnte er sich gegen uns wenden«, gab Goran zu bedenken. » Dann könnte er glauben, das Licht sei den Kampf nicht wert.«
» Ist das nicht längst so?«, fragte Wikor. » Das Licht besteht nur noch aus einer Ansammlung von Schatten, die von besseren Zeiten träumen. Selbst der König ist ein Schatten!«
Farank hob die Hand, und sie verstummten. » Wenn es zur entscheidenden Schlacht kommt, könnte Hanna das Zünglein an der Waage sein. Beim Licht, Mattim schien mir entschlossen, das Richtige zu tun, aber kann er sich selbst trauen, wenn es um dieses Mädchen geht? Bevor es so weit ist, müssen wir handeln. An einer einzigen Person darf unsere Mission nicht scheitern. Ich selbst werde das übernehmen. Bis dahin krümmt keiner ihr auch nur ein Haar. Habt ihr das verstanden? Hanna bleibt am Leben, nur dann wird Kunun sich sicher fühlen. Er glaubt, Mattims Gefühle in- und auswendig zu kennen, er würde nie erwarten, dass wir dem Mädchen etwas antun. Bis zum letzten Augenblick muss das so bleiben, ist das klar?«
Sie nickten. Dann schlüpften sie wieder in den Wald zurück, in den Schatten, und es war, als wären sie nie da gewesen.
Mattim atmete wieder. Lautlos wie die anderen schlich er davon.
17
BUDAPEST, UNGARN
Früher hätte Hanna sich das nie im Leben zugetraut. Sie hätte nie gedacht, dass sie eines Tages losziehen würde, um sich ein… Opfer zu suchen. Aber es gab so manches, von dem sie nichts gewusst hatte. Zum Beispiel von dem Kitzel dunkler Straßen, wenn man nicht fürchten musste, überfallen zu werden, sondern selbst auf der Jagd war.
Kunun hatte ihr eingeschärft, denselben Menschen nie zweimal zu beißen.
» Es sei denn, du willst dir noch einen Verehrer zulegen.«
» Nein, danke.« Die Vorstellung, dass jeder, den sie biss, ihr wie ein Hündchen folgte, war irgendwie lustig, andererseits auch… erschreckend. » Ist das automatisch so?«, wollte sie wissen. » Dass derjenige, den wir beißen, etwas für uns empfindet?«
Kunun legte ihr seine Hände an die Wangen. Das tat er häufig, als könnte er gar nicht genug davon bekommen, ihr Gesicht zu berühren, die weiche Haut, ihr Haar.
» Er wird sein eigenes Leben suchen, das du ihm geraubt hast. In dir. Daher kann ein Gebissener nicht anders, er wird dich als Quelle seiner Sehnsucht ausmachen. Nimm viel, und er wird sich nach dir verzehren. Nimm wenig, und er wird den Kopf heben, dich mit seinen Augen suchen, und wenn sich eure Blicke begegnen, wird er denken: Die da, die hat etwas… Auch wenn er nie erfährt, warum. Jeder Mensch liebt nur sich selbst, Hanna. So ist es nun mal.«
Sie dachte darüber nach. » Du hast Réka gebissen, häufig sogar. Ist sie deshalb so vernarrt in dich?«
» Oh, das ist bloß mein natürlicher Charme.« Kununs Augen waren wachsam, als ahnte er schon ihre nächste Frage.
» Mich hast du auch gebissen.«
» Ja«, gab er zu, » aber du wolltest es so, weißt du noch?«
Er hauchte einen Kuss auf ihre Schläfe.
» Suche ich auch mein Leben in dir?«
» Du hast kein Leben mehr, kleiner Schatten«, sagte er zu ihr. » Und jetzt geh los, oder es wird schwer für dich, den nächsten Morgen zu überstehen. Früher oder später zieht es dich wieder in die Sonne, wetten?«
» Ich wünschte, du würdest mitkommen.« Sie schmiegte sich in seine Umarmung.
» Jeder, der halbwegs bei Verstand ist, wird vor mir davonlaufen. Nein, Hanna, ich werde nicht mehr in Budapest auf die Jagd gehen. Ich muss auf das warten, was andere mir zuführen.«
» Soll ich jemanden für dich mitbringen?«
» Ach, Hanna, du bist so lieb. Nein, meine Süße. Du bist neu in dem Geschäft, das überlass den Profis. Ich bin der König, weißt du? Ich habe genug Leute, die sich um mich kümmern.«
Es fiel ihr schwer, sich von ihm loszureißen. Sie hatten das Licht im Wohnzimmer nicht eingeschaltet, denn wann immer er ein Zimmer betrat, knipste er als Erstes das Licht aus. Im Dunkeln war seine Gegenwart besonders verlockend, seine Stimme unglaublich, waren seine Küsse unvergleichlich. Im Dunkeln spielten seine Entstellungen keine Rolle. Doch manchmal wünschte sie sich, er würde ihr so sehr vertrauen, dass er ihr das ganze Ausmaß seiner Verletzungen offenbarte. Dass er die Handschuhe ablegte, sein Hemd öffnete, dass er sie wirklich an sich heranließ– an sein Herz.
An der Schwelle warf sie ihm
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