Der Traum des Schattens
Flusses.
» Hör auf damit. Du warst nicht im Hof, jetzt weiß ich, dass du lügst. Ich hätte dich durch die Glasscheibe gesehen, oder? Ich werde dir nur helfen, wenn du aufhörst, mich zu ärgern. Versprich mir, dass endlich Schluss ist mit diesem ganzen Unsinn, sonst bringe ich dich nicht nach drüben.«
» Na gut«, flüsterte er.
Warum half sie ihm überhaupt? Kunun würde das nicht gutheißen, das wusste sie. Aber sie musste auf ihre Weise mit diesem aufdringlichen Verwandten fertigwerden. Familie war wichtig, und wenn Kunun einen missratenen Bruder hatte, musste sie ihm mit Humor und Nachsicht begegnen. Außerdem hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie sich so schamlos an seinem Blut bedient hatte.
» Hier ist die Pforte.« Sie griff nach seiner Hand, und im nächsten Moment standen sie unter den Bäumen. Ein kühler Wind rauschte in den Blättern und Zweigen. In Budapest war Sommer, hier war es merklich kühler, und in der Ferne heulten die Wölfe. Der Wald gehörte Mattim. Sobald sie durch die Pforte gegangen waren, schien sein Gesicht heller zu werden, und seine Augen leuchteten.
» Pass lieber auf dich auf«, riet sie ihm, ließ ihn los und kehrte in den Keller zurück. Hoffentlich passierte ihm nichts. So lästig er war, es wäre dennoch schade um ihn gewesen.
Mattim brauchte eine Weile, bis sich seine Augen an das schummerige Dämmerlicht gewöhnt hatten. Der Geruch von Magyria, dieser vertraute Geschmack auf der Zunge umfingen ihn wie immer. Er atmete tief ein und streckte die Hand nach dem nächsten Baum aus, um sich zu vergewissern, dass er nicht träumte, dass auch diese Welt wirklich da war. Der Blutverlust hatte ihn geschwächt, und er fühlte sich erschöpft und schwindlig. Nicht in seinen schlimmsten Albträumen wäre er auf die Idee gekommen, dass Hanna ihn beißen könnte.
So viel hatte er sich von dem Moment im Fahrstuhl erhofft. Dass sie wieder zu ihrem alten Ich zurückfand, dass sie ein Déjà-vu hatte und ihr alles wieder einfiel… Beim Licht, sie war viel schlimmer dran, als er sich jemals hätte vorstellen können. Durch und durch ein Schatten. Das war nicht gespielt. Am liebsten hätte er sie geschüttelt, um sie dazu zu zwingen, sich normal zu verhalten und diese Farce zu beenden– aber sie wirkte ehrlich erstaunt über sein Verhalten, als würde sie ihn tatsächlich nicht kennen. Wie war es möglich, dass sie ihn vergessen hatte, vollständig, so wie alles, was sie miteinander erlebt hatten? Wie um alles in der Welt hatte das passieren können? Was hatte Kunun getan?
Plan A war gescheitert: Mattim konnte Hanna nicht zurückverwandeln. Nicht wenn sie sich dagegen sträubte, ihn auch nur anzufassen. Solange sie ihn nicht liebte, brauchte er es gar nicht erst zu versuchen. Es war an der Zeit, einen Plan B zu entwerfen.
Mattim musste sich dazu zwingen, seine Aufmerksamkeit auf den Wald zu richten, durch den er wanderte. Die genaue Stelle zu finden, die dem Standort des Gerbaud in Budapest entsprach, war so gut wie unmöglich, dennoch wollte er mit offenen Augen auf alles achten, was anders war als früher. Hatte der Duft des Waldes sich verändert? War er herbstlicher geworden, modriger, roch er mehr nach Feuchtigkeit und Zerfall? Woher stammten die duftenden Blumen und die fremdartigen Schlinggewächse mit den großen Blättern? Es war, als hätte er einen völlig anderen Wald vor sich, einen fremden Dschungel, der aus der Nacht herauswuchs und den früheren lichten Wald überwucherte.
Ein Schattenwolf löste sich aus der Dunkelheit– Bela. Die anderen Wölfe hielten sich im Hintergrund, während Mattim ihn begrüßte. Schmerzlich vermisste er die Fähigkeit, mit dem Rudel eins zu sein. Er war ein Wolf gewesen, aber jetzt war er viel zu sehr Mensch, um anders als mit Worten zu seinem Bruder zu reden. Dennoch spürte er, dass Bela nervös war. Das war nicht nur die Wiedersehensfreude, nein, irgendetwas beunruhigte ihn; auch die Wölfe spürten die Veränderung.
» Wenn du bloß sprechen könntest! Und wo ist eigentlich Wilder?« Es fühlte sich nicht richtig an, dass er von ihnen getrennt war. Er hätte sich in einen Wolf verwandeln müssen, wenigstens für kurze Zeit, und es frustrierte ihn, dass es nicht möglich war.
Bela schob Mattim mit dem Kopf dorthin zurück, von wo er gekommen war. Die Geste war eindeutig: Verschwinde lieber.
» Du meinst es gut, aber ich kann nicht zurück«, sagte Mattim. » Nicht ohne einen Schatten. Was ist hier los? Wisst ihr es? Dass ihr
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