Der Traum des Schattens
sein, dem das außerordentlich schwerfiel.
» Du und ich«, sagte er leise. » Wie kann das alles weg sein? Ich verstehe es nicht. Fühlst du nichts, rein gar nichts? Kannst du mich wirklich ansehen und behaupten, dass du mich nicht kennst? Dass ich dir überhaupt nichts bedeute?«
Sie tat ihm den Gefallen und betrachtete ihn. Trotz der äußerlichen Ähnlichkeit war kaum zu glauben, dass er mit Kunun verwandt war. Kunun machte seinem leicht asiatischen Aussehen alle Ehre; er wirkte immer so gesammelt. So… heiter, weise und gelassen. Dagegen kam ihr Mattim wie eine tickende Zeitbombe vor, die jederzeit explodieren konnte.
» Wir waren hier eingeschlossen, in einem gläsernen Fahrstuhl. Die Zeit lief ab. Sobald die Sonne aufgegangen wäre, hätte ich sterben müssen. Ich hatte kein Blut getrunken, ich wollte nicht. Ich wollte keinen Menschen verletzen. Das tut das Licht nicht. Wir kämpfen für die Unschuldigen, wir fallen nicht über sie her, um ihnen das Blut auszusaugen. Wie hätte ein Biss mein Herz verwandeln können, wenn ich das nicht zuließ? Ich war entschlossen zu sterben. Aber du hattest keine Angst. Du hast dir meine Geschichte angehört. Du hast mich trinken lassen. Ich hielt dich in meinen Armen… und danach konnte ich nicht aufhören, an dich zu denken. Ich hätte nie zu hoffen gewagt, dass es dir ähnlich ging. Wir haben uns wiedergefunden. Da ich dein Blut getrunken hatte, konntest du mich ausfindig machen. Vielleicht war unsere Liebe nicht echt. Am Anfang dachte ich, es wäre nur die Anziehungskraft zwischen Täter und Opfer, dass dein Blut uns verbunden hat, dein Leben. Ich habe mich nach der Sonne in deinem Blut gesehnt. Durch dich hatte ich das Licht wiedergefunden! Ich habe mir gesagt, es kann nicht echt sein. Doch du…«
» Jetzt mal ganz langsam.« Hanna hatte ihm geduldig zugehört, aber es reichte ihr allmählich. » Mattim, was du dir da einbildest– diese Momente hat es nie gegeben. Kunun hat mir gesagt, ich soll nachsichtig mit dir sein, und das war ich. Bitte mach die Tür wieder auf. Ich werde jetzt gehen, und du lässt mich in Zukunft in Ruhe.« Sie hatte einen beruhigenden Tonfall angeschlagen, wie für ein wildes Tier, das sich in die Ecke gedrängt sah. Trotzdem schrak sie zusammen, als er auf sie zusprang.
» Du musst dich erinnern!«, rief er. Dann versuchte er sie zu küssen, aber sie drehte das Gesicht weg und stieß ihn von sich. » Ich will, dass du wieder du bist! Dafür gebe ich dir einen Teil meiner Seele!«
Sie kämpfte gegen ihn. Er war erstaunlich stark, aber sie war ein Schatten.
» Hanna– oh nein, oh beim Licht! Hanna!«
» Lass mich endlich in Ruhe!«, schrie sie.
» Du bist nicht mit Kunun zusammen. Du liebst mich!«
Gegen ihren Willen bekam sie es mit der Angst zu tun. Er schien wirklich an das zu glauben, was er da von sich gab. Ein Wahnsinniger, der sie für seine Freundin hielt, schlimmer als jeder Stalker. Sie war ein Schatten, doch er war überraschend schnell, und sie erinnerte sich an alles, was Kunun über ihn gesagt hatte.
Ausgebildet zum Soldaten, mein Truppenführer, der Eroberer von Akink … Dass sie ein Schatten war, machte sie nicht zur Kämpferin. Die Männer draußen in der Stadt, von denen sie sich ihr Blut holte, waren ahnungslos und deshalb leichte Beute. Dieser Mann hier war anders, er würde sich nicht so einfach überrumpeln lassen. Er war selbst ein Schatten gewesen, er wusste genauestens Bescheid. Wie hatte sie nur so dumm sein können, mit ihm in diese Fahrstuhlkabine zu steigen? Man konnte sie sehr wohl verletzen. Oder ihren Zustand zwischen Leben und Tod sehr eindeutig und unwiderruflich auf die Seite des Todes verschieben.
» Mattim«, sagte sie leise und bemühte sich, die Angst aus ihrer Stimme herauszuhalten.
Sofort wurde er ruhig. Fast zu ruhig. » Du… du bist wieder da?«, flüsterte er.
Sie trat auf ihn zu und legte ihm die Hände auf die Schultern. Dann biss sie zu.
Als Magyrianer hätte er sich in einen Wolf verwandeln müssen, aber das tat er nicht. Kunun hatte es ihr angekündigt, trotzdem war sie enttäuscht, denn sie hätte ein solches Wunder zu gerne selbst miterlebt. Mattim fiel nicht unter ihr weg und verwandelte sich auch nicht. Stattdessen blieb er zitternd stehen. Sie roch den Duft seiner Haut und trank weiter. Sein Blut war unerwartet köstlich. Damit hatte sie nicht gerechnet.
Die pulsierende Lebendigkeit der Menschen ihrer Welt war anders. Es war wichtig und notwendig, und zu trinken stillte
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