Der Traum des Schattens
leid. Alles, was er anpackte, ging schief, da konnte sie ihn nicht auch noch beißen. Dann war Atschorek wie aus dem Nichts aufgetaucht. Wie lange hatte die rothaarige Schattenfrau sie schon beobachtet? Ihrem überheblichen Lächeln nach zu urteilen zu lange.
Wenn Atschorek nicht vor ihr gestanden hätte, wäre Hanna vermutlich unverrichteter Dinge wieder abgezogen. So aber wurde sie ein Opfer ihrer ganz persönlichen Schwäche: dem Wunsch, die Erwartungen anderer zu erfüllen.
» Es sollte bei dir jedenfalls nicht mehr funktionieren«, fauchte Hanna Mattim an.
» Hey, ich habe nicht vor, mich darüber zu beschweren, dass du mich gebissen hast. Es ist nur gerecht, in gewisser Weise. Mehr sage ich dazu lieber nicht, sonst rastest du wieder aus.«
» Ich raste aus?«
Sein Lachen klang echt, völlig unbeschwert und ungekünstelt. Dann wurde er schlagartig ernst. » Dass du hier sein kannst, musste jemand mit Blut bezahlen. Hast du den Menschen nach Hause gebracht? Auf ihn geachtet?« Als sie nicht antwortete, schüttelte er den Kopf. » Was ist bloß los mit dir, Hanna? Du bist nicht so. Es müsste dich sehr wohl interessieren, was mit den Leuten passiert, die du beißt. Wozu hat dieser Schweinehund dich nur gemacht?«
» Was weißt du schon davon, wie ich bin?«, schnappte sie.
Er wandte den Kopf zur Seite, wie um sie nicht ansehen zu müssen, und präsentierte ihr dabei sein schönes Profil. Gott, dachte sie, ist der Kerl hübsch. Wäre er es nicht, würde ich mich bestimmt viel mehr über seine Unverschämtheiten ärgern.
» Okay, lassen wir das.« Mattim hielt ihr das Fläschchen mit der Seifenlauge hin. » Willst du auch mal?«
» Das ist albern.« Sie nahm es trotzdem. Die erste Blase zerplatzte sofort, die nächste wurde schön und groß und rund. Nahezu vollkommen. Bewundernd starrte sie ihr nach. Während er weitermachte, ertappte sie sich dabei, dass sie ihn betrachtete. Dummerweise merkte er es auch.
» Und? Gefällt dir, was du siehst?«
Als Mensch wäre sie garantiert rot geworden, doch nun stand sie über diesen Dingen. » Ganz gut«, gab sie zu. » Das weißt du ja offenbar selbst.«
» Ganz gut?« Er streckte sich wieder im Gras aus. » Ach, Hanna. Es ist mehr als das.«
» Wie bitte?« Sie hatte geahnt, dass er ziemlich von sich eingenommen war, aber das war ziemlich heftig. » Du hältst dich wohl für unwiderstehlich, wie?«
» Die Geschmäcker sind nun mal verschieden«, sagte er bescheiden, nur um mit einem bösen Grinsen hinzuzufügen: » Zufällig kenne ich deinen Geschmack ganz genau. Ich bin nicht einfach nur nett anzusehen, Hanna. Nicht für dich. Ehrlich gesagt, unter uns, ich bin nicht halb so toll, wie du denkst. Siehst du hier etwa irgendwelche Mädels, die mir nachlaufen? Den meisten falle ich gar nicht auf. Dir dagegen schon. Ich bin einfach genau dein Typ. Ich bin das, was du schon immer haben wolltest.«
Am liebsten hätte sie ihm ihre Tasche um die Ohren geschlagen, aber etwas hielt sie zurück. Er klang selbstbewusst, ja, doch da war noch mehr… Als er sie anblickte, las sie in seinen Augen eine abgrundtiefe Verzweiflung, die sie daran erinnerte, dass hinter dieser zugleich attraktiven und arroganten Fassade eine brüchige, labile Persönlichkeit steckte. Kunun hatte sie wiederholt darauf hingewiesen, dass sie Mattim nicht auf den Leim gehen durfte.
Sie wartete eine Weile darauf, dass er sich weiter lobte, aber er schien damit zufrieden, vor ihrer Nase in der Sonne herumzuliegen und gut auszusehen. Oh verdammt! Wie konnte er bloß wissen, dass sie ihn unwiderstehlich fand? Weil er aussah wie Kunun, wie ein unversehrter, jüngerer blonder Kunun mit grauen Augen und einem herrlichen Lächeln? Einem Lächeln, das wie die Sonne war und wie der Frühling und… Stopp! Aufhören! Spar dir die lyrischen Ergüsse! Er ist sowieso tabu.
Hanna setzte sich auf und wühlte in ihrer Tasche nach irgendeiner Ablenkung. Lesen konnte sie jetzt sowieso nicht, daher griff sie nach der Kamera. Sie hielt die Leica wie einen Schatz in den Händen. Gut, der Film war noch nicht ganz voll. Zu fotografieren hieß für sie zu sehen, ein Stück von der Wahrheit zu erkennen… Was sehe ich hier? Heute? Woraus besteht das Jetzt?
Sie zoomte einen Grashalm heran. Ein kleiner schwarzer Käfer krabbelte über die Erde und mühte sich mit seinen winzigen Beinen ab. Durch das Objektiv wirkte die Welt näher und weiter entfernt zugleich. Da, etwas Helles, Verschwommenes. Was war das? Sie stellte es
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