Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Traum des Schattens

Der Traum des Schattens

Titel: Der Traum des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
Vom Netzwerk:
irgendwie, ihre Frage loszuwerden.
    » Was tust du in meinem Traum? Wer bist du? Hast du die Wölfe heute nicht mitgebracht?«
    » Die Wölfe legen die Spur«, sagte er. » Ihnen zu folgen bedeutet mehr, als ihnen zu folgen. Ihr Nachtgesang ist verführerisch, aber du musst dein eigenes Lied singen.«
    » Das verstehe ich nicht. Wer bist du, Herr der Wölfe?«
    » Erwache!«, rief er. » Die Zeit fliegt dahin, und bald gibt es nichts mehr, was diese und jene andere Welt retten kann. Wach auf!«
    Damit rannte er davon. Ihr war, als würde er sich in einen Wolf verwandeln und davonspringen, diesmal nicht über blühendes Gras, sondern über eine leere, dunkle Landschaft. Sie wollte ihm nicht nachlaufen, dorthin, wo unnennbare Schrecken lauerten, wollte um nichts in der Welt sehen müssen, was dort hinten war, dort, wo es noch dunkler war, als würde ein Gewitter aufziehen.
    Erwache! Du musst erwachen! Folge nicht dem Wolf, kehr um!
    Mit größter Anstrengung zwang sie ihre Lider auseinander. Blendende Helligkeit stach ihr in die Augen, und sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Die Insel, ihr Lieblingsplatz unter dem Baum, ihre Decke.
    Ihre Gedanken schwebten davon wie die Seifenblasen, die über ihr in den Himmel stiegen, an den Ästen über ihr zerplatzten oder ihnen, von einer gnädigen Brise erfasst, auswichen und aus ihrem Blickwinkel schwebten. Sie richtete sich auf, in der Erwartung, eine Familie oder spielende Kinder zu sehen, stattdessen war da nur ein junger Mann, der an einem Baumstamm lehnte und in einen Plastikring blies.
    Hanna ließ sich zurück auf ihr Handtuch fallen.
    » Das ist wirklich kindisch«, sagte sie und unterdrückte ein Aufstöhnen.
    » Das Licht bricht sich in ihnen, regenbogenfarben. Nichts ist so wie das Licht. Wasser und Licht zusammen sind unübertrefflich.«
    » Du vergisst die Seife«, bemerkte sie lakonisch.
    » Tja, Seife kann nicht schaden.«
    Hanna zog die Beine an, als Mattim zu ihr herüberschlenderte, sich vor ihrem Handtuch ins Gras legte und die Augen schloss.
    » Was wird das?«, erkundigte sie sich.
    » Ich sonne mich.«
    Die Art, wie er dalag, hatte etwas Aufreizendes, fand sie. Sein T-Shirt schien er gezielt ausgesucht zu haben, um die Blicke auf seinen Körper zu lenken. Seine Schultern waren perfekt, die Haut war sanft gebräunt, die Muskeln seiner Oberarme waren genau so, wie sie es mochte. Über dem verletzten Handgelenk trug er ein Schweißband.
    » Ich dachte, wir fangen noch mal ganz von vorn an. Also, darf ich mich vorstellen? Ich bin Mattim, Kununs jüngster Bruder. Von acht Geschwistern bin ich der Jüngste. Sieben hätten es sein sollen. Es sind immer sieben Kinder des Lichts, daher war ich eine unverhoffte Überraschung.«
    » Dass du Überraschungen magst, ist mir schon aufgefallen. Trotzdem störst du.«
    » Gar nicht. Ich mache überhaupt nichts.«
    Sie musste aufhören, ihn anzusehen. Schließlich war sie mit Kunun zusammen, und Treue bedeutete ihr alles. Andererseits– was war daran schlimm, wenn ihr Blick auf jemand anders fiel, der zufällig da war? Was sollte sie denn tun– die Augen schließen? Weggehen? Sie dachte nicht daran. Dies war ihr Platz, und sie würde das Feld nicht kampflos räumen. Sie würde Mattim garantiert nicht auf die Idee bringen, dass sein Äußeres sie irgendwie beeindruckte. Das tat es nämlich nicht. Schönheit bedeutet nichts. Kunun ist vielleicht nicht schön, aber er hat eine Ausstrahlung wie niemand sonst. Erst recht nicht dieser aufdringliche Kerl hier. Aber musste Mattim sich ihr wirklich direkt vor die Nase legen?
    » Du weißt genau, dass du mich nicht verfolgen darfst. Bei jedem anderen wäre ich längst zur Polizei gegangen.«
    » Irrtum. Einen Schatten, der dich beschattet«, er schmunzelte, » würde Kunun sich zur Brust nehmen. Einen Menschen, der dich belästigt, könntest du von jemand anders beißen lassen, damit er dich nicht mehr findet.«
    » Warum findest du mich dann?«
    » Du hast mein Blut getrunken, schon vergessen?«
    » Aber danach…«
    » Was war danach? Hast du etwa jemand anders gebissen?«
    Sie wollte nicht an die vergangene Nacht denken. Nachdem Bartók gegangen war, hatte sie sich mit dem traurigen Mann an der Bar unterhalten. Sobald er gemerkt hatte, dass sie Deutsche war, hatte er angefangen zu erzählen, und sie hatte den richtigen Zeitpunkt für den Biss einfach nicht gefunden. Wann? Und wie? Ihr neues Selbstbewusstsein hatte sich nach und nach verflüchtigt. Der Kerl tat ihr

Weitere Kostenlose Bücher