Der Traum des Schattens
eine Kusshand zu und verließ die Wohnung. Sie nahm die Treppe, wie immer, denn der Fahrstuhl erfüllte sie nach wie vor mit Unbehagen. Nein, sie wollte nicht an Mattim und sein rätselhaftes Verhalten denken. Um Kunun nicht unnötig aufzuregen, hatte sie ihm nichts von der Begegnung erzählt. Vermutlich hätte er seinen Bruder zur Rede gestellt, aber sie wollte allein damit fertigwerden.
Wenn man jemanden beißt, wird er einen verfolgen… Nein, sie musste ganz dringend ein anderes Opfer finden, bevor Mattim auf die Idee kam, dass er sie unbedingt zu seinem Glück brauchte. Wenn er das nicht sowieso schon tat.
Auch zu dieser nächtlichen Stunde waren viele Leute unterwegs– besonders viele Schatten, wie ihr auffiel. Zwei Männer sprachen sie an, doch keineswegs, um ihr ein fragwürdiges Angebot zu unterbreiten.
» Dies ist unsere Straße«, sagte einer schroff.
» Ich glaub’s nicht«, meinte sie. » Ihr habt die Stadt aufgeteilt in Reviere? Davon hat Kunun mir nichts gesagt.«
Einer der Männer zuckte die Achseln. » Es gibt immer weniger Menschen.«
» Das darf doch wohl nicht wahr sein.« Sie drängte sich an ihm vorbei. Sie war kein Schatten geworden, um sich von irgendjemandem einschüchtern zu lassen. Auch nicht von anderen Schatten, egal wie groß und breitschultrig sie waren.
» He!«
Wenn er versucht hätte, sie festzuhalten– sie wusste nicht, was sie dann getan hätte. Schatten gegen Schatten, das konnte nur unschön enden.
Sie wandte sich um und setzte ihr hochmütigstes Gesicht auf. Ich bin schön, dachte sie. Ich bin unsterblich. Kein unsicheres, verklemmtes Mädchen, sondern ein Schatten.
Ein einziger Blick, bei dem sie sich unsterblich schön und unverschämt selbstbewusst fühlte, und die beiden Männer knickten ein.
» Tut uns leid«, sagte der zweite. » Entschuldigen Sie meinen Kollegen.«
Sie war selbst davon überrascht, wie gut das funktioniert hatte. » Was würden Sie mir empfehlen?«, fragte sie freundlich.
» Das Tanzlokal da an der Ecke«, sagte der Mann. » Dort sind viele Touristen, die von nichts eine Ahnung haben.«
» Wunderbar. Ich danke Ihnen«, sagte Hanna.
Als wäre ich jetzt jemand anders. Egal ob Menschen oder Schatten, ich kann Respekt einfordern. Ein gutes Gefühl.
Kurz darauf betrat sie das überfüllte Lokal und blickte sich um. Sie wollte niemanden ermutigen, zudringlich zu werden, andererseits waren Angetrunkene wahrscheinlich die leichteste Beute. Wonach sollte sie ihr Opfer auswählen?
Opfer? Nun übertreib mal nicht, rügte sie sich. Du willst schließlich niemanden umbringen. Der Blutverlust schadet keinem. Es tut kaum weh, und später ist sowieso alles vergessen. Mach kein Drama daraus.
Sie setzte sich an die Theke auf einen freien Barhocker. Der Mann neben ihr seufzte über seinem Glas. Rasch schätzte sie ihn ab: Brille, schütteres Haar, unglückliches Gesicht. Er schien zu einer Touristengruppe zu gehören, die besonders viel Lärm machte, denn immer wieder blickte er zu den anderen hinüber, die sich offenbar köstlich amüsierten, und seufzte.
» Hanna?«, fragte plötzlich jemand hinter ihr.
Sie zuckte zusammen und schämte sich für ihre Schreckhaftigkeit. » Kommissar Bartók.«
Er ließ sich auf den Hocker neben ihr gleiten. » Offenbar erinnern Sie sich an mich. Mattim hat gewisse Zweifel in mir geweckt, was das angeht.«
» Mattim ist nicht ganz richtig im Oberstübchen«, sagte sie. » Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
Er musterte sie zweifelnd. » Erinnern Sie sich auch an meine Mutter?«
» An Adrienn. Natürlich, schließlich habe ich für ein paar Monate bei ihr gewohnt.«
Er nickte langsam. » Und an… ihr Ende? Was können Sie mir darüber sagen?«
Sie versuchte zu enträtseln, was er meinte. Den ganzen Frühling hatte sie auf dem Land verbracht, bei der netten alten Dame. Sie hatten Schach gespielt, oder? Irgendetwas war da mit einem Schachspiel, einem schwarzweißen Spielbrett auf einem Tisch. Aber beim besten Willen hätte sie nicht sagen können, was genau passiert war, als… ja, als was?
» Es hat ein Feuer gegeben«, sagte sie langsam und grub in ihrem Gedächtnis. Es tat fast weh. » Ein großes Feuer. Ich bin gelaufen, so schnell ich konnte.«
» Das stimmt nicht«, widersprach er. » Sie sind geritten. Im wilden Galopp, mitten durch die Felder.«
» Unmöglich. Ich kann gar nicht reiten.«
Er hatte wieder diesen merkwürdigen Ausdruck.
» Was ist denn?«
» Mattim«, flüsterte er.
» Ja, was ist mit
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