Der Traum des Schattens
was bei ihm alles nicht stimmte, konnte er ihr schon gefallen. Kein Wunder, immerhin war er Kununs Bruder. In dieser Familie waren alle recht ansehnlich geraten.
Geistesabwesend streckte er die Hand aus. Dadurch hatte sie seinen Arm plötzlich direkt vor ihrer Nase. Gebräunte Haut, blonde Härchen, Muskeln, die darunter zu erahnen waren. Dazu der Duft nach Sommer und Gras und Mensch. Ihre Finger umschlossen sein Handgelenk, schneller als ihre Gedanken. Wie warm seine Haut sich anfühlte.
Er entzog ihr den Arm nicht, er blickte nur überrascht auf. » Es gibt keinen Grund, mich zu beißen«, sagte er. » Ich werde es nicht vergessen, nichts hiervon. Außerdem bietet mein Blut dir keinen Sonnenschutz.«
» Ich weiß.« Beschämt ließ sie ihn wieder los, überrascht von ihrer plötzlichen Gier. Er hatte recht, sein Blut zu trinken war sinnlos, es nützte ihr nichts, genauso wenig wie das Blut eines Schattens. Sie musste ihn in Ruhe lassen, so wie auch die Vampire es untereinander hielten, selbst wenn sie keine Solidarität füreinander empfanden. Doch Mattim war kein Schatten. Er war etwas anderes, etwas, das es gar nicht geben sollte, ein Wesen, das nirgends hinpasste.
» Für den Fall, dass du es trotzdem tun willst– es macht mir nichts aus. Bediene dich ruhig.« Wieder hielt er ihr sein Handgelenk unter die Nase, aber in seiner Stimme vibrierte unterdrückter Zorn.
Wenn sie von ihm trank, machte sie es nur noch schlimmer. Er würde überall auftauchen, wohin sie auch ging. Es wäre unmöglich, ihm zu entkommen. Genau das beabsichtigte er doch!
» Das hättest du wohl gerne«, fuhr sie ihn an. Sie wollte sich abwenden, stattdessen packte sie seinen Arm und bohrte die Zähne in seine Ader.
Er hielt den Atem an. Natürlich tat es weh, das sollte es auch. Wann begriff er endlich, dass dies kein Spiel war? Kunun würde toben, wenn er davon erfuhr.
Aber das Blut war so süß. Es schmeckte nach der samtigen Dunkelheit Magyrias, nach dem sanften Schimmer des Lichts über dem Fluss, nach dem Wald und den flüsternden Stimmen darin, nach Vorhängen, die sich im Wind bewegten und raschelten. Jemand ging auf und ab, auf und ab, wie ein eingesperrter Panther. Irgendwo schrie eine Stimme: Mattim! Mattim!
Er versuchte den Arm zurückzuziehen, und schließlich versetzte er ihr einen heftigen Stoß. Mit einem Aufkeuchen ließ sie sich nach hinten fallen.
» Lass mich am Leben«, sagte er und lachte, es klang geradezu verzweifelt. » Du solltest mir noch etwas übrig lassen.«
Hanna wischte sich den Mund am Handtuch ab und beschloss, ihn zu ignorieren. Sollte er ruhig verschwinden. Sollte er sich endlich vor ihr fürchten, begreifen, was sie war. Er war auch ein Schatten gewesen, er wusste, was das hieß. Wie viele Menschen er wohl getötet hatte beim Trinken? So unbeherrscht, wie er war.
» Ist dir das schon mal passiert? Hast du jemanden dabei umgebracht?«, fragte sie.
» Nein«, sagte er leise.
» Es kann doch eigentlich sehr leicht passieren.«
» Nicht wirklich. Man braucht nicht so besonders viel Blut.«
Er ließ sich ins Gras fallen und starrte nach oben ins Blattwerk. Sie dachte über seine Antwort nach. Natürlich hatte er recht. Um die Sonne auszuhalten, war nicht viel Blut nötig. Aber das hier eben… das war überhaupt nicht nötig gewesen. Für rein gar nichts. Wenn man etwas stillte, das kein Hunger war, wie konnte man dann wissen, wann man satt war? Wenn es nur um Appetit ging?
Ich bin nicht einfach nur ein Schatten wie die anderen, dachte sie erschauernd. Heute Nacht habe ich noch geglaubt, ich wäre zu unschuldig für so etwas. Dabei bin ich noch viel schlimmer. Das eben war aus reiner Lust.
Der nächste Gedanke war noch erschreckender: Was schadet es?
» Es wird nicht mehr vorkommen«, sagte sie und hoffte, dass sie merklich selbstbewusster und entschiedener klang, als sie sich fühlte. » Nie wieder! Bitte sag Kunun nichts davon, er könnte es… missverstehen.«
» Kunun«, sagte er leise. » Ist er schon lange dein Freund?«
» Warum fragst du?«
» Nur so«, meinte er nachdenklich. » Er ist nicht der Typ für feste Beziehungen.«
» Was?«, brauste sie auf. » Wie meinst du das?«
» Hat er dir nicht gesagt, nach welchem Rezept er vorgeht? Beißen und aussortieren.«
Sie ärgerte sich so sehr, dass sie ihn am liebsten erwürgt hätte. » Du hast ja keine Ahnung. Bei den Menschenfrauen geht es ihm nur um das Blut.«
» Ach ja?«, murmelte er leise. » Demnach ist es nicht so, dass
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