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Der Traum des Schattens

Der Traum des Schattens

Titel: Der Traum des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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scharf. Ein Fuß.
    Mit einem langen, genervten Seufzer blickte sie über den Rand der Kamera.
    Mattim hatte die Schuhe ausgezogen und die Hosenbeine hochgekrempelt. Nun saß er da und wackelte mit den Zehen. » Willst du meine Füße fotografieren? Nur zu.«
    Es war unglaublich, was mit seinem Gesicht passierte, wenn er lächelte. Eben noch war er ihr düster und gelangweilt vorgekommen, ein Jugendlicher, dessen einziger Antrieb darin bestand, sie zu ärgern. Jetzt glitt ein Strahlen über sein Gesicht, seine Augen waren wie ein Stück Himmel, die Sonne fing sich in seinen goldenen Strähnen.
    Hanna schnappte nach Luft. Hastig hob sie die Kamera höher und versteckte sich und ihre aufgewühlten Gefühle dahinter.
    Gefühle? Ach, was. Ich bin nicht beeindruckt, ich würdige nur, dass er hübsch ist. Kunun hat mich vor ihm gewarnt. Mattim ist ein Blender. Außerdem … hat er nicht eine Freundin? Diese Mirita?
    Sie überließ der Kamera das Sehen. Die Leica war unbestechlich, sie war nicht verräterisch wie ein Herz. Sie fing den Schwung seiner Lippen ein, die strahlenden Augen… Himmel, hatte er schöne Augen… und dieser Blick, so ernst und intensiv…
    Mattim ließ sich wieder auf den Rücken fallen und stöhnte leise.
    Da er die Augen geschlossen hatte, schob sie sich auf den Knien näher. Rasch knipste sie ein Bild nach dem anderen; wenigstens ein gutes war bestimmt dabei.
    Sein Shirt war hochgerutscht, und auf dem schmalen Streifen Haut zwischen dem dünnen Stoff und seiner Hose wurden rote Stellen sichtbar, die Abdrücke eines Raubtiergebisses. Erschrocken ließ Hanna die Kamera sinken.
    » Du warst– du warst ja wirklich ein Schatten«, platzte sie heraus. » Ich wollte es irgendwie nicht glauben. Das passt überhaupt nicht zu dir.«
    » Passt es etwa zu dir?« Nicht einmal seine schönen Hände, mit denen er geistesabwesend ein Gänseblümchen zerrupfte, konnten sie ablenken. » Ich war schon alles Mögliche.«
    Sie wandte den Blick nicht ab. Die roten Striemen übten eine schaurige Faszination auf sie aus. » Welcher Wolf war es? Weißt du das?«
    » Wilder. Und bei dir?«
    » Ich… bin mir nicht sicher.«
    » Wo…« Seine Stimme war merkwürdig heiser. » Wo hat er dich gebissen?«
    » Hier.« Sie legte die Hand an ihre Taille.
    » Darf ich mal sehen?« Er klang gewollt lässig, die Frage geradezu beiläufig.
    Da ist nichts Schlimmes dabei, dachte sie. Wir sind schließlich fast so etwas wie Freunde. Warum sollten wir uns nicht gegenseitig unsere Narben zeigen?
    Trotzdem kribbelte ihre Haut, als sie ihr T-Shirt an der Seite hochzog. Auf einmal fand sie die Situation sehr intim.
    Mattim betrachtete die Spuren, die jene Wolfszähne hinterlassen hatten, und nickte schließlich. » Ich wollte es auch nicht glauben«, sagte er leise. » Es fällt mir unsagbar schwer, all das wirklich zu akzeptieren… Ich dachte, die Stelle sei an deinem Hals. Warum sonst trägst du ständig einen Schal?« Ohne sie um Erlaubnis zu bitten, streckte er die Hand aus und zog an ihrem Halstuch.
    Der seidene Stoff löste sich. Das ging entschieden zu weit, trotzdem konnte sie sich nicht rühren. Mattim saß so dicht vor ihr, dass sie seinen Atem auf ihrer Haut spüren konnte.
    » Bissspuren«, flüsterte er. » Noch eine Narbe. Ich hab’s gewusst! Er hat dir das Gedächtnis geraubt, vorher. Er hat dir exakt die Dinge genommen, die er dir nehmen wollte. Mich und alles, was mit mir zu tun hat. Es konnte nie heilen, weil er dich gleich danach verwandelt hat. Du konntest die Erinnerungen nicht zurückholen, weil er dir keine Zeit dafür gelassen hat. Das erklärt so einiges.« Er tastete über die Stelle, und obwohl er sie kaum anfasste, durchfuhr sie die Berührung wie ein elektrischer Schlag.
    Hanna schlug seine Hand weg und sprang auf. » Finger weg! Was glaubst du, wer du bist? Fass mich nicht an!«
    Mattim ließ sich wieder ins Gras fallen. Er bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen und stöhnte erneut.
    » Hör endlich auf, mit mir zu flirten!«, fuhr sie ihn an. » Tu das nie wieder! Ich bin mit deinem Bruder zusammen. Du glaubst doch nicht wirklich, du könntest dich zwischen uns drängen?«
    Er rollte sich auf die Seite. Sie war sich nicht sicher, ob er lachte oder weinte. Aber warum hätte er weinen sollen?
    » Ich würde Kunun nie hintergehen«, sagte sie. » Wir gehören zusammen. Er hat sein Leben für mich riskiert, er hat alles geopfert. Du bildest dir was auf dein Aussehen ein? Du glaubst, damit könntest du jede

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