Der Traum
angefleht; und plötzlich hatte ein Stoß in ihr sie zitternd auffahren lassen, endlich erhört! Aus der Tiefe der Erde verzieh nach dreißig Jahren die starrsinnige Tote, sandte ihnen das so glühend ersehnte und erwartete Kind der Vergebung. War es die Belohnung für ihre Barmherzigkeit, daß sie an einem Schneetag dieses arme Elendsgeschöpf an der Tür der Kathedrale aufgelesen, das heute im vollen Gepränge der großen Zeremonien einem Prinzen angetraut wurde? Sie blieben auf den Knien liegen, ohne Gebet, ohne klar ausgesprochene Worte, verzückt in Dankbarkeit, während ihr ganzes Sein sich in unendlichem Dank verströmte. Und auf der anderen Seite des Altarraumes, auf seinem Thron, saß der Bischof, der auch zur Familie gehörte, erfüllt von der Majestät des Gottes, den er vertrat: er erstrahlte im Glanz seiner heiligen Gewänder, auf seinem Gesicht malte sich ruhige Erhabenheit, so losgelöst war er von den Leidenschaften dieser Welt, während die beiden Engel auf den gestickten Stoffbahnen über seinem Haupt das strahlende Wappen der Hautecœurs hielten.
Jetzt begann die Feierlichkeit. Die ganze Geistlichkeit war anwesend, Priester waren aus den Pfarrgemeinden gekommen, um ihren Bischof zu ehren. In dieser weißen Woge von Chorhemden, die durch die Gitter quollen, leuchteten die goldenen Chorröcke der Vorsänger und die roten Gewänder der Ministranten. Die ewige Nacht der Seitenschiffe unter der zermalmenden Wucht der romanischen Kapellen wurde an jenem Morgen von der klaren Aprilsonne erhellt, die die Kirchenfenster entzündete, auf denen es wie von Edelsteinen in rötlicher Glut schimmerte. Doch das Dunkel des Kirchenschiffes vor allem flammte von einem Gewimmel von Kerzen, von so vielen Kerzen, wie Sterne an einem Sommerhimmel stehen: in der Mitte war der Hauptaltar von ihnen geradezu in Brand gesetzt, der symbolische brennende Busch, der vom Feuer der Seelen brennt; und es waren Kerzen in den Armleuchtern, in den Wandleuchtern, in den Kronleuchtern; und vor dem jungen Paar leuchteten zwei große Kandelaber mit geschwungenen Armen gleich zwei Sonnen. Dichte Büsche grüner Pflanzen verwandelten den Chor in einen lebendigen Garten, den große Tuffs weißer Azaleen, weißer Kamelien und weißen Flieders mit ihren Blüten schmückten. Bis in die Tiefe der Apsis funkelten goldene und silberne Streiflichter, ließen flüchtig Stoffbahnen aus Samt und Seide erkennen, ein ferner Abglanz des Tabernakels zwischen dem Grün. Und über diesem Funkeln schwang sich das Kirchenschiff empor, stiegen die vier ungeheuren Pfeiler des Querschiffes in die Höhe, das Gewölbe zu stützen, im zitternden Hauch dieser Tausende von Flämmchen, die das volle Licht der hohen gotischen Fenster erschauern ließen.
Angélique hatte vom guten Abbé Cornille getraut werden wollen, und als sie ihn im Chorhemd mit der weißen Stola, gefolgt von zwei Geistlichen, voranschreiten sah, ging ein Lächeln über ihr Antlitz. Dies war endlich die Verwirklichung ihres Traumes, sie vermählte sich dem Reichtum, der Schönheit, der Macht, und das war mehr, als sie je erhoffte. Die Kirche sang mit ihrer Orgel, strahlte mit ihren Kerzen, lebte durch ihr Volk von Gläubigen und Priestern. Niemals war das alte Schiff in erhabenerem Gepränge erstrahlt, war durch ein Ausströmen des Glücks in seiner geheiligten Pracht gleichsam geweitet. Und Angélique lächelte, wohl wissend, daß sie den Tod in sich trug, inmitten dieser Freude, da sie ihren Sieg feierte. Beim Einzug hatte sie einen Blick auf die HautecœurKapelle geworfen, in der Laurette und Balbine schlummerten, die Glücklichen Toten, die ganz jung in höchster Liebesglückseligkeit dahingerafft wurden. In dieser letzten Stunde war sie vollkommen, siegreich über ihre Leidenschaft, geläutert, erneuert, nicht einmal mehr vom Stolz über den Triumph beseelt, ergeben in dieses Entschweben ihres Seins im Hosianna ihrer großen Freundin, der Kathedrale. Als sie niederkniete, tat sie es als ganz demütige und ganz gehorsame Dienerin, völlig rein gewaschen von der Erbsünde; und sie war zugleich sehr fröhlich ob ihrer Entsagung.
Nachdem Abbé Cornille vom Altar herabgestiegen war, sprach er die Ermahnung mit freundschaftlicher Stimme. Er führte als Beispiel die Ehe an, die Jesus mit der Kirche eingegangen, er sprach von der Zukunft, ermahnte sie, ihre Tage im Glauben zu leben und ihre Kinder als Christen zu erziehen; und da lächelte Angélique angesichts dieser Hoffnung wiederum, während
Weitere Kostenlose Bücher