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Der Traum

Der Traum

Titel: Der Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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kristallener Durchsichtigkeit; und sein Glanz war so stark, daß man darin sogar die feinen Umrisse der Weidenblätter erkennen konnte. Das leiseste Erschauern der Luft schien diesen Strahlensee zu kräuseln, der in seinem erhabenen Frieden zwischen den großen Ulmen der benachbarten Gärten und der riesigen Chorhaube der Kathedrale schlummerte.
    Noch zwei Abende verstrichen; als Angélique in der dritten Nacht auf den Balkon trat, um sich auf die Brüstung zu lehnen, verspürte sie in ihrem Herzen einen jähen Stich. Dort in dem hellen Schein erblickte sie ihn, aufrecht stand er da, ihr zugewandt. Sein Schatten hatte sich, gleich dem der Bäume, unter seine Füße verkrochen, war verschwunden. Nur er war noch da, hell und klar. Auf diese Entfernung sah sie ihn wie am hellichten Tag, zwanzig Jahre war er alt, blond, groß und schlank. Er glich dem heiligen Georg, einem prächtigen Jesus, mit seinem lockigen Haar, seinem leichten Bart, seiner geraden, ein wenig kräftigen Nase, seinen dunklen Augen, in denen stolze Sanftmut strahlte. Und sie erkannte ihn ganz genau: niemals hatte sie ihn anders gesehen, er war es, so hatte sie ihn erwartet. Das Wunder vollendete sich endlich, die langsame Erschaffung aus dem Unsichtbaren mündete in diese lebendige Erscheinung ein. Er ging aus dem Unbekannten, aus dem Erschauern der Dinge, aus den murmelnden Stimmen, aus den ruhelosen Spielen der Nacht hervor, aus allem, was sie umwoben hatte, bis ihr die Sinne vergingen. Daher auch sah sie ihn zwei Fuß über dem Erdboden, wie er in der Übernatürlichkeit seines Kommens über dem geheimnisvollen See des Mondes schwebte, während das Wunder ihn von allen Seiten umgab. Sein Geleit bildete das ganze Volk der »Legenda aurea«, die heiligen Männer, deren Stecken erblühten, die heiligen Frauen, aus deren Wunden es Milch regnete. Und der weiße Flug der Jungfrauen ließ die Sterne verblassen.
    Angélique schaute ihn immerfort an. Er hob beide Arme, breitete sie weit aus. Sie hatte keine Angst, sie lächelte ihm zu.
     

Kapitel V
    Das gab alle drei Monate eine große Aufregung, wenn Hubertine Wäsche hatte. Sie nahm eine Frau, die Mutter Gabet; vier Tage lang dachte niemand mehr ans Sticken; und auch Angélique machte da mit, und das Einseifen und Spülen in den klaren Wassern des ChevrotteBaches war für sie eine Erholung. Wenn die Wäsche aus der Lauge genommen war, fuhr man sie auf einem Schubkarren durch die kleine Verbindungstür. Man verlebte die Tage im ClosMarie an der frischen Luft, im hellen Sonnenschein.
    »Mutter, dieses Mal wasche ich, das macht mir soviel Spaß!« Und von Lachen geschüttelt, die Ärmel bis über die Ellbogen hochgestreift, schlug Angélique, den Waschbleuel schwingend, nach Herzenslust drauflos in der Freude an dieser gesunden, beschwerlichen Arbeit, bei der sie sich über und über mit Schaum bespritzte. »Das stärkt die Arme, das tut mir gut, Mutter!«
    Der ChevrotteBach floß schräg durch diese Einfriedung, zunächst schläfrig, dann sehr rasch, und schoß sprudelnd einen steinigen Hang hinab. Er kam aus dem bischöflichen Garten durch eine Art Staubrett, das man unten in die Mauer eingelassen hatte; und am anderen Ende, im Winkel beim Hôtel Voincourt, verschwand er unter einem gewölbten Brückenbogen, stürzte in die Erde hinab, um zweihundert Meter weiter wieder aufzutauchen, die ganze Rue Basse entlang zum Ligneul zu fließen, in den er sich ergoß. So mußte man also gut auf die Wäsche achtgeben, wenn man nicht alle Augenblicke losrennen wollte, denn jedes Stück, das man fahrenließ, war verloren.
    »Mutter, wartet, wartet doch! – Ich werde diesen dicken Stein auf die Handtücher legen. Wir werden ja sehen, ob dieser diebische Bach sie entführt!«
    Sie legte den Stein auf die Wäsche, ging dann wieder zurück, um noch einen von den Trümmern der Mühle loszureißen, und war entzückt, ihre Kräfte zu verausgaben, sich müde zu machen; und als sie sich einen Finger quetschte, schüttelte sie ihn und sagte, es sei nichts weiter. Tagsüber gingen die armen Leute, die in den Ruinen hausten, einzeln auf den Landstraßen betteln. Der ClosMarie blieb einsam, war von frischer und köstlicher Einsamkeit, mit seinen Gruppen bleicher Weiden, seinen hohen Pappeln, seinem Gras vor allem, seinem üppig wuchernden wilden Gras, das so kräftig gedieh, daß man bis zu den Schultern darin versank. Erschauerndes Schweigen wehte von den beiden benachbarten Parks herüber, deren große Bäume den Horizont

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