Der Traum
Wölfe singen. Sogleich antworten die Heiligen, überwinden sie: Hostien werden in lebendes Fleisch verwandelt, von den Bildern des gekreuzigten Christus fließt Blut herab, in die Erde gepflanzte Stecken blühen, Quellen sprudeln hervor, warme Brote vermehren sich zu Füßen der Bedürftigen, ein Baum neigt sich und betet Jesus an; und überdies sprechen die abgeschlagenen Köpfe, die zerbrochenen Kelche werden von selber wieder ganz, der Regen weicht einer Kirche aus, um die benachbarten Paläste zu ertränken, das Gewand der Einsiedler nutzt sich überhaupt nicht ab, erneuert sich zu jeder Jahreszeit wie ein Tierfell. In Armenien werfen die Verfolger die Bleisärge von fünf Märtyrern ins Meer, und der Sarg, der die sterbliche Hülle des Apostels Bartholomäus enthält, setzt sich an die Spitze, und die vier anderen begleiten ihn, um ihm das Totengeleit zu geben, und alle treiben sie in der schönen Ordnung eines Geschwaders langsam unter der Brise über weite Meeresstrecken bis zu den Gestaden Siziliens.
Angélique glaubte fest an Wunder. In ihrer Unwissenheit war für sie alles um sie her voller Wunder, der Aufgang der Gestirne und das Erblühen der schlichten Veilchen. Es erschien ihr wahnsinnig, sich die Welt als ein von feststehenden Gesetzen gelenktes Getriebe vorzustellen. So vieles entzog sich ihrem Verständnis, sie fühlte sich so verloren, so schwach inmitten von Gewalten, deren Kraft zu ermessen ihr unmöglich war und die sie ohne das große Wehen, das ihr zuweilen übers Gesicht strich, nicht einmal geahnt hätte! Daher auch gab sie sich als Christin der Urkirche, genährt von der Lektüre der »Legenda aurea«, willenlos in Gottes Hände mit dem Makel der Erbsünde, den es auszulöschen galt; sie konnte nicht anders, Gott allein vermochte ihr Heil zu bewirken, indem er ihr die Gnade sandte; und Gnade war es, daß er sie unter das Dach der Huberts im Schatten der Kathedrale geführt hatte, damit sie ein Leben des Gehorsams, der Reinheit und des Glaubens lebe. Sie hörte den Dämon der Erbsünde tief in ihrem Innern grollen. Wer weiß, was aus ihr auf heimatlichem Boden geworden wäre? Eine Verworfene zweifellos, während sie in diesem gesegneten Winkel zu jeder Jahreszeit in neuer Gesundheit heranwuchs. War nicht Gnade diese Welt, geschaffen aus den Geschichten, die sie auswendig kannte, aus dem Glauben, den sie hier eingesogen, aus dem mystischen Jenseits, in das sie sich versenkte, diese Welt des Unsichtbaren, darin das Wunder ihr natürlich erschien und neben ihrem täglichen Leben geschah! Es wappnete sie für den Lebenskampf, gleichwie die Gnade die Märtyrer wappnete. Und ohne ihr Wissen schuf sie es selber: es entstand aus ihrer von Erzählungen erhitzten Phantasie, aus dem unbewußten Verlangen ihrer Geschlechtsreife; es weitete sich durch alles, was sie nicht wußte, wurde wachgerufen vom Unbekannten, das in ihr und in den Dingen war. Alles kam von ihr, um wieder zu ihr zurückzukehren, der Mensch schuf Gott, um den Menschen zu retten, es waltete nur der Traum und sonst nichts. Manchmal war sie verwundert, betastete voller Verwirrung ihr Gesicht, weil sie an ihrer eigenen Körperlichkeit zweifelte. War sie nicht eine Erscheinung, die verschwinden würde, nachdem sie einen schönen Wahn geschaffen?
In einer Maiennacht brach sie auf diesem Balkon, auf dem sie so lange Stunden verbrachte, in Tränen aus. Sie empfand keinerlei Traurigkeit, sie war ganz verstört durch eine Erwartung, obwohl niemand kommen sollte. Es war stockdunkel, der ClosMarie höhlte sich wie ein finsteres Loch unter dem sternenübersäten Himmel, und sie unterschied nur die düsteren Massen der alten Ulmen des bischöflichen Gartens und des Hôtel Voincourt. Nur das Fenster der Kapelle schimmerte. Wenn doch niemand kommen sollte, warum klopfte ihr Herz dann so mit starken Schlägen? Es war eine Erwartung, die von weit her stammte, aus der Tiefe ihrer Jugend, eine Erwartung, die mit zunehmendem Alter gewachsen war, um schließlich zu diesem angstvollen Fieber ihrer Geschlechtsreife zu führen. Nichts hätte sie überrascht, seit Wochen schon hörte sie in diesem von ihrer Einbildungskraft bevölkerten geheimnisvollen Winkel Stimmen raunen. Die »Legenda aurea« hatte auf diesen Winkel ihre übernatürliche Welt von heiligen Männern und Frauen losgelassen, das Wunder war bereit, hier zu erblühen. Sie verstand wohl, daß alles sich belebte, daß die Stimmen von den einst stummen Dingen herrührten, daß die Blätter der
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