Der Traum
Bäume, die Wasser des ChevrotteBaches, die Steine der Kathedrale zu ihr sprachen. Doch wen nur kündigte das Flüstern des Unsichtbaren also an, was wollten die unbekannten Mächte von ihr, die vom Jenseits herüberwehten und in der Luft schwebten? Sie hielt die Augen in die Finsternis gerichtet wie bei einem Stelldichein, das niemand ihr gegeben, und sie wartete und wartete, bis sie vor Müdigkeit umsank, während sie fühlte, wie das Unbekannte außerhalb ihres Willens über ihr Leben entschied.
Eine Woche lang weinte Angélique so in der dunklen Nacht. Sie kam immer wieder dorthin und wartete geduldig. Sie fühlte sich immer mehr umhüllt, jeden Abend mehr, als verengere sich der Horizont und bedränge sie. Die Dinge lasteten auf ihrem Herzen, die Stimmen summten jetzt tief in ihrem Hirn, ohne daß sie sie klarer hörte. Es war ein langsames Besitzergreifen, bei dem die ganze Natur, die Erde mit dem weiten Himmel in ihr Sein eindrangen. Beim leisesten Geräusch brannten ihre Hände, mühten sich ihre Augen, die Finsternis zu durchdringen. War das endlich das erwartete Wunder? Nein, noch immer nichts, nichts als der Flügelschlag eines Nachtvogels. Und sie horchte wieder angespannt, sie vernahm sogar das unterschiedliche Rauschen der Blätter in den Ulmen und in den Weiden. Unzählige Male durchfuhr sie ein Schauer, wenn ein Stein in den Bach rollte oder ein umherstreifendes Tier von einer Mauer glitt. Halb ohnmächtig beugte sie sich vor. Nichts, noch immer nichts.
Eines Abends schließlich, als eine wärmere Dunkelheit vom mondlosen Himmel herabsank, begann es. Sie fürchtete, sich zu täuschen, es war so leicht, kaum wahrnehmbar, ein kleines Geräusch, neu unter den Geräuschen, die sie kannte. Es zögerte, sich zu wiederholen, sie hielt den Atem an. Dann ließ es sich stärker vernehmen, immer noch wirr. Sie hätte es für das ferne, kaum erahnte Geräusch eines Schrittes gehalten, dieses Zittern der Luft, das ein Näherkommen ankündigte, ohne daß man es sah und hörte. Was sie erwartete, kam aus dem Unsichtbaren, trat langsam aus allem hervor, was rings um sie erschauerte. Stück für Stück löste es sich aus ihrem Traum wie eine Verwirklichung des unbestimmten Verlangens ihrer Jugend. War es der heilige Georg aus dem Kirchenfenster, der mit den lautlosen Füßen eines gemalten Bildes das hohe Gras niedertrat, um zu ihr emporzusteigen? Das Fenster verblaßte gerade, sie konnte den Heiligen nicht mehr deutlich sehen, der jetzt einem verwischten, zerfließenden, purpurnen Wölkchen glich. In jener Nacht konnte sie nicht mehr darüber erfahren. Doch am nächsten Tag zur gleichen Stunde, in der gleichen Dunkelheit, nahm das Geräusch zu, kam ein wenig näher. Es war ganz gewiß ein Geräusch von Schritten, von den Schritten einer Erscheinung, die leicht den Boden streiften. Sie hielten inne, sie kamen wieder, hier und dort, ohne daß es ihr möglich war, genau zu bestimmen, wo. Vielleicht drangen sie aus dem Garten der Voincourts zu ihr, irgendein nächtlicher Spaziergänger, der sich unter den Ulmen verspätet hatte. Vielleicht kamen sie vielmehr aus dem dichten Gesträuch des bischöflichen Gartens, aus den großen Fliederbüschen, deren starker Duft ihr Herz ertränkte. Wie sehr sie auch die Finsternis mit den Blicken durchwühlte, allein ihr Gehör gab ihr von dem erwarteten Wunder Kunde, und ihr Geruchssinn nahm diesen Hauch der Blüten wahr, die jetzt stärker dufteten, als habe sich ein Atem dareingemischt. Und mehrere Nächte lang zogen die Schritte unter dem Balkon immer engere Kreise, sie hörte sie bis an die Mauer zu ihren Füßen vordringen. Dort hielten sie inne, und eine lange Stille trat darauf ein, und das Unbekannte hüllte sie vollends ein, wie eine langsame und zunehmende Umarmung, in der ihr die Sinne schwanden.
An den folgenden Abenden sah sie inmitten der Sterne die schmale Sichel des zunehmenden Mondes zum Vorschein kommen. Doch das Gestirn neigte sich mit dem sinkenden Tage und verschwand hinter dem Giebel der Kathedrale, gleich einem hellen, klaren Auge, über dem sich das Lid wieder schließt. Sie schaute ihm nach, sah es bei jeder Abenddämmerung größer werden und harrte ungeduldig dieser Leuchte, die endlich das Unsichtbare erhellte. Nach und nach tauchte wirklich der ClosMarie aus der Dunkelheit empor, mit den Ruinen seiner alten Mühle, seinen Baumgruppen, seinem lustigen Bach. Und im Lichte vollzog sich jetzt die Schöpfung weiter. Was aus dem Traume kam, nahm schließlich
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