Der Traum
versperrten. Von drei Uhr an wurde der Schatten der Kathedrale länger mit seiner andächtigen Sanftheit, seinem verfliegenden Weihrauchduft.
Und Angélique schlug die Wäsche stärker mit der ganzen Kraft ihres frischen, weißen Armes.
»Mutter! Mutter! Heute abend werde ich aber essen! – Ach, Ihr wißt doch, Ihr habt mir eine Erdbeertorte versprochen!«
Aber bei dieser Wäsche blieb Angélique zum Spülen allein. Mutter Gabet, die an einem plötzlichen Ischiasanfall litt, war nicht gekommen; und andere häusliche Obliegenheiten hielten Hubertine in der Wohnung zurück. In dem strohgepolsterten Kasten kniend, nahm das junge Mädchen ein Stück Wäsche nach dem anderen, schwenkte es lange hin und her, bis das Wasser nicht mehr trübe wurde, sondern kristallklar blieb. Sie beeilte sich nicht, sie verspürte seit dem Morgen eine unruhige Neugier, weil sie zu ihrer Verwunderung dort einen alten Arbeiter in grauem Kittel vorgefunden hatte, der ein leichtes Gerüst vor dem Fenster der HautecœurKapelle errichtete. Wollte man das Kirchenfenster ausbessern? Das war auch nötig: beim heiligen Georg fehlten Glasstücke; andere, im Lauf der Jahrhunderte zerbrochene waren durch einfaches Glas ersetzt worden. Und doch verwirrte sie das. Sie war so an die Lücken in dem Heiligen, der den Drachen durchbohrte, und in der Königstochter, die ihn mit ihrem Gürtel fortführte, gewöhnt, daß sie schon um sie trauerte, als hätte man die Absicht gehabt, sie zu verstümmeln. Es war ein Sakrileg, so alte Dinge zu verändern. Und als sie vom Mittagessen zurückkam, verflog plötzlich ihr Zorn: ein zweiter Arbeiter stand auf dem Gerüst, ein junger, der ebenfalls einen grauen Kittel anhatte. Und sie hatte ihn wiedererkannt, er war es.
Ohne jede Verlegenheit ging Angélique zu ihrem Platz und kniete sich vergnügt ins Stroh ihres Kastens. Sie hatte die Ärmel hochgekrempelt und machte sich dann wieder daran, die Wäsche in dem klaren Wasser hin und her zu schwenken. Das war er, groß, schlank, blond, mit dem feinen Bart und dem lockigen Haar eines jungen Gottes, seine Haut war so weiß, wie sie ihn im Weiß des Mondes gesehen hatte. Da er es war, hatte das Kirchenfenster nichts zu fürchten: wenn er es berührte, würde er es nur noch schöner machen. Und sie empfand keinerlei Enttäuschung darüber, ihn in diesem Kittel wiederzufinden, als einen Menschen, der arbeiten mußte wie sie, als Glasmaler zweifellos. Im Gegenteil, sie konnte nur darüber lächeln, weil sie ihres Traumes von königlichem Reichtum völlig gewiß war. Es sah nur so aus. Wozu sollte sie es wissen? Eines Morgens würde er der sein, der er sein sollte. Der goldene Regen rieselte vom First der Kathedrale, ein Triumphmarsch rauschte auf im fernen Grollen der Orgel. Sie fragte sich nicht einmal, welchen Weg er nahm, um bei Nacht und bei Tage dort zu sein. Wenn er nicht in einem der benachbarten Häuser wohnte, konnte er nur durch die Ruelle des Guerdaches kommen, die bis zur Rue Magloire an der Mauer des bischöflichen Gartens entlangführte.
Nun verging eine bezaubernde Stunde. Sie beugte sich vor, sie spülte ihre Wäsche und berührte dabei mit dem Gesicht fast das kühle Wasser; doch bei jedem neuen Stück hob sie den Kopf, warf einen kurzen Blick hinüber, in dem bei der Erregung ihres Herzens ein schelmischer Funke blinkte. Und er, auf dem Gerüst, dem Anschein nach sehr beschäftigt damit, festzustellen, in welchem Zustand sich das Kirchenfenster befand, schaute sie von der Seite an, war verlegen, sobald sie ihn so, ihr zugewandt, ertappte. Es war erstaunlich, wie schnell er rot wurde, wie sich seine sonst so weiße Haut jäh verfärbte. Bei der geringsten Gemütsbewegung, ob Zorn oder Zärtlichkeit, stieg ihm das ganze Blut seiner Adern ins Gesicht. Er hatte kampfesmutige Augen, und wenn er fühlte, daß sie ihn aufmerksam betrachtete, war er so schüchtern, daß er wieder zum kleinen Kind wurde, nicht wußte, wo er seine Hände lassen sollte, und stammelnd dem alten Mann, der hier mit ihm arbeitete, Anweisungen gab. Sie hinwiederum stimmte es fröhlich, beim Hantieren in diesem Wasser, dessen Ungestüm ihr die Arme kühlte, zu erraten, daß er unschuldig war wie sie, unwissend in allem, und mit gieriger Leidenschaft ins Leben hineinbeißen wollte. Man muß nicht immer laut sagen, was ist, unsichtbare Boten bringen es herbei, stumme Münder sagen es weiter. Sie hob den Kopf und ertappte ihn dabei, wie er sein Gesicht abwandte, und die Minuten verflossen,
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