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Der Traum

Der Traum

Titel: Der Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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erstaunt, ihr Zimmer von greller Helligkeit erfüllt zu sehen. Über den Ulmen stieg langsam der Mond empor und löschte am blaß gewordenen Himmel die Sterne. Durch das Fenster erblickte sie die sehr weiße Apsis der Kathedrale. Und es war, als erhelle der Widerschein von diesem Weiß das Zimmer mit milchigem und kühlem morgendlichem Dämmerlicht. Die weißen Wände, die weißen Balken, diese ganze weiße Kahlheit wurde dadurch gesteigert, ausgeweitet und in die Ferne gerückt, gleich wie in einem Traum. Sie erkannte jedoch die alten Möbel aus dunklem Eichenholz wieder, den Schrank, die Truhe, die Stühle, mit den schimmernden Kanten ihrer Schnitzereien. Nur ihr Bett, ihr viereckiges Bett von königlicher Breite erregte sie, als hätte sie es nie gesehen, wie es so seine Säulen aufrichtete, seinen Betthimmel aus alter rosa Leinwand trug, in so helles Mondlicht getaucht, daß sie glaubte, sie sei auf einer Wolke mitten im Himmel, emporgetragen von einer Schar lautloser und unsichtbarer Flügel. Einen Augenblick empfand sie das weit ausholende Schwingen dieses Fluges; dann gewöhnten sich ihre Augen daran, ihr Bett stand richtig in der gewohnten Ecke. Sie lag mit unbeweglichem Kopf da, während ihre Blicke in diesem Strahlensee umherirrten und das Veilchensträußchen auf ihren Lippen ruhte.
    Worauf wartete sie? Warum konnte sie nicht schlafen? Sie war jetzt dessen gewiß: sie wartete auf jemand. Wenn sie aufgehört hatte zu weinen, so deshalb, weil er kommen würde. Diese tröstliche Helle, die die Dunkelheit der bösen Träume in die Flucht schlug, kündete ihn an. Er würde kommen, der Mond als Bote war nur vor ihm hereingekommen, um sie beide mit diesem Weiß der Morgenstunde zu erleuchten. Das Zimmer war mit weißem Samt ausgeschlagen, sie würden sich sehen können. Da stand sie auf, kleidete sich an: nur ein weißes Kleid, das Musselinkleid, das sie am Tag des Ausflugs zu den Ruinen von Hautecœur angehabt hatte. Sie band nicht einmal ihr Haar zusammen, das ihre Schultern umhüllte. Ihre Füße blieben nackt in ihren Pantoffeln. Und sie wartete.
    Jetzt wußte Angélique nicht, von wo er kommen würde. Zweifellos würde er nicht heraufsteigen können, sie würden sich beide sehen, sie auf den Balkon gestützt, er unten im ClosMarie. Indessen hatte sie sich hingesetzt, als hätte sie begriffen, daß es nutzlos sei, ans Fenster zu gehen. Warum sollte er nicht durch die Wände gehen, wie die Heiligen in der »Legenda aurea«? Sie wartete. Doch sie wartete nicht allein, sie fühlte sie alle um sich, die Jungfrauen, deren weißer Flug sie seit ihrer Jugend umgab. Sie traten mit dem Mondenstrahl herein, sie kamen aus den geheimnisvollen, blauwipfeligen großen Bäumen des bischöflichen Gartens, aus den verlorenen Winkeln der Kathedrale, die ihren steinernen Wald ineinander verflocht. Aus dem ganzen bekannten und geliebten Umkreis, vom ChevrotteBach, von den Weiden, von den Gräsern her hörte das junge Mädchen ihre Träume, die wieder zu ihr zurückkamen, die Hoffnungen, die Sehnsüchte, das, was sie in die Dinge, da sie sie täglich sah, von sich hineingelegt hatte und was die Dinge ihr zurücksandten. Niemals hatten die Stimmen des Unsichtbaren so laut gesprochen, sie lauschte ins Jenseits hinaus, sie erkannte in der Tiefe der brennendheißen Nacht, in der sich kein Luft hauch regte, den leisen Schauer, der für sie die flüchtige Berührung durch das Gewand der Agnes bedeutete, wenn die Hüterin ihres Leibes sich an ihrer Seite hielt. Sie war froh, Agnes mit den anderen dort zu wissen. Und sie wartete.
    Weiter floß die Zeit dahin, Angélique war sich dessen nicht bewußt. Es erschien ihr ganz natürlich, als Félicien kam und sich über die Balkonbrüstung schwang. Vom weißen Himmel hob sich seine hohe Gestalt ab. Er kam nicht herein, er blieb im lichterfüllten Rahmen des Fensters stehen.
    »Haben Sie keine Angst ... Ich bin˜s, ich bin gekommen.«
    Sie hatte keine Angst, ihr war nur so, als käme er zur festgesetzten Stunde.
    »Sie sind am Gebälk herauf geklettert, nicht wahr?«
    »Ja, am Gebälk.«
    Sie mußte lachen über diese so bequeme Möglichkeit.
    Er hatte sich zunächst auf das Schutzdach über der Tür gezogen; von da aus war er dann am Tragstein, dessen Fuß auf dem Bandgesims des Erdgeschosses ruhte, entlanggeklettert und hatte so mühelos den Balkon erreicht.
    »Ich habe auf Sie gewartet, kommen Sie zu mir.«
    Félicien, der voller Ungestüm und zu Wahnsinnstaten entschlossen daherkam,

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