Der Traumhändler
Schulden nicht mehr ein noch aus. Wie kann ich da noch träumen?«, oder: »Ich bin total gestresst. Meine Arbeit macht mich fertig. Mir tut alles weh. Ich weiß schon lange nicht mehr, wer ich bin; das Einzige, was ich kann, ist arbeiten.«
Die Antworten beeindruckten mich. Mir wurde klar, dass diejenigen, die mich bei meinem Selbstmordversuch beobachtet hatten, nicht weit von meinem Elend entfernt waren. Zuschauer und Schauspieler erlebten dasselbe Drama.
Der Meister hatte keine magischen Lösungen für uns parat, doch er wollte uns dazu bringen, in uns zu gehen und unser Leben zu überdenken. Angesichts der psychischen Wüste, in der wir uns verloren hatten, polterte er: »Ohne Träume haben uns die Ungeheuer in der Hand, die uns im Innern oder in der Außenwelt auflauern. Das Träumen aber befreit uns vom Gespenst, das uns einflüstert, wir hätten uns mit allem abzufinden.«
Eine übergewichtige junge Frau, hundertdreißig Kilo schwer und eins achtzig groß, war von diesen Worten tief beeindruckt. Sie empfand es als ihr Schicksal, abgelehnt zu werden und unglücklich zu sein. Das Gespenst der Hoffnungslosigkeit hatte sie fest im Griff. Seit Jahren schon nahm sie Antidepressiva. Sie war pessimistisch und übertrieben selbstkritisch. Neben anderen Frauen setzte sie sich ständig selbst herab. Verlegen näherte sie sich dem Traumhändler und flüsterte, sodass es nur wenige hören konnten: »Ich bin in einem tiefen Loch voll Trauer und Einsamkeit. Kann denn ein hässlicher Mensch jemals geliebt werden? Hat denn jemand, der nie begehrt wurde, überhaupt die Chance, eines Tages die große Liebe zu finden?« Sie träumte davon, geküsst, umarmt, geliebt und umschwärmt zu werden und war in ihrer Kindheit sicherlich verspottet, abgelehnt und beleidigt worden. Ihr Selbstwertgefühl war ermordet worden, genau wie das meine.
Bartholomäus, der ihre Worte gehört hatte und selbst nach Aufmerksamkeit dürstete, begann nun lautstark zu lallen: »Süße Schnecke! Heiße Biene! Wilder Feger! Suchst du deinen Traumprinzen? Hier ist er! Komm zu mir!« Und er breitete die Arme aus. Wenn ich ihn nicht festgehalten hätte, wäre er hingefallen. Das Mädchen lächelte. Der unverschämte Betrunkene war nun wirklich der Letzte, mit dem sie es zu tun haben wollte.
Der Meister sah sie an und antwortete voll Mitgefühl: »Jeder hat die Chance auf eine große Liebe. Vergiss nicht, dass du den besten aller Partner haben kannst, doch solange unglücklich bleibst, wie du dich selbst nicht liebst. Um aber deine große Liebe zu finden, musst du dich aus deiner Versklavung befreien.«
»Welcher Versklavung?«, fragte sie überrascht.
»Der Unterwerfung unter die Schönheitsnormen dieser Gesellschaft.«
Einige Zuhörer schöpften aus diesen Worten Mut und gaben nun zu, dass sie davon träumten, ihre Schüchternheit, Einsamkeit oder Ängste zu überwinden. Andere wünschten sich Freunde oder einen besseren Job, weil das Geld nicht bis zum Monatsende reichte. Wieder andere äußerten, dass sie von einem Hochschulstudium träumten, das sie aber nicht finanzieren konnten.
Sie erwarteten ein Wunder, doch der Traumhändler handelte mit Ideen und mit Wissen. Das war wertvoller als Gold und Silber und faszinierender als Perlen und Diamanten. Deshalb förderte er auch nicht den Erfolg um des Erfolges willen. Für ihn gab es keinen Weg ohne Hindernisse noch Meere ohne Stürme. Er richtete seinen Blick auf die Menge und sagte mit fester Stimme: »Wenn eure Träume nur Wünsche sind statt Projekte und Pläne, dann werdet ihr sie sicherlich mit ins Grab nehmen. Träume ohne Pläne produzieren frustrierte Menschen, die sich den gesellschaftlichen Normen unterwerfen.«
Weitere Erklärungen gab er nicht, denn er wollte, dass seine Zuhörer den Weg der Erkenntnis selbst beschritten. Ich war nachdenklich geworden. Wir leben in einer Konsumgesellschaft, in der Wünsche gezüchtet statt existenzielle Projekte verfolgt werden. Niemand plant, Freunde zu gewinnen oder tolerant zu sein, Ängste zu überwinden oder die große Liebe zu finden.
»Solange der Zufall unser Gott ist, Unfälle unsere Dämonen sind, bleiben wir infantil.«
Ich schaute mich um und bemerkte erschrocken, dass das Gesellschaftssystem in fast jedem von uns irreparable Schäden angerichtet hatte. Ziemlich viele Menschen konsumierten zwar eine ganze Menge, waren aber Automaten, Roboter ohne Pläne, ohne Lebenssinn, ohne Ziele, spezialisiert darauf, Anordnungen zu befolgen, statt selbst zu
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