Der Traumhändler
denken. Nicht von ungefähr stieg die Zahl psychischer Störungen ständig an.
Ich hinterfragte mich auch in meiner Rolle als Hochschullehrer: Was für Menschen hatte ich an der Universität ausgebildet? Sklaven oder Führungspersönlichkeiten? Automaten oder Denker?
Aber bevor ich eine Antwort auf diese Frage finden konnte, sorgte ich mich um meine eigene Situation. Hatte mich etwa die Tatsache, kritisch zu sein, vor der Sklaverei bewahrt? Ich musste zugeben, dass dies nicht der Fall war. Ich war Sklave meines Pessimismus und meiner Pseudounabhängigkeit. Meine Träume hatte ich begraben. Die Worte des Meisters an seine begeisterten Zuhörer unterbrachen meine Gedanken: »Eroberungen ohne Risiko sind Träume ohne Verdienst. Niemand ist seiner Träume würdig, wenn er Niederlagen nicht dazu nutzt, sie zu pflegen.«
Da ich die Geschichte des Reichtums der Nationen studiert hatte, verstand ich die soziologische Bedeutung dieses Gedankens. Vielen Erben waren ohne eigenen Verdienst große Vermögen zugefallen. Anstatt die Anstrengungen ihrer Eltern zu schätzen, verschleuderten sie den Reichtum, als wäre er unerschöpflich, und führten ein oberflächliches, zügelloses Leben. Sie lebten den Augenblick, aus dem sie so viel Lust wie möglich schöpfen wollten, ohne zukünftige Stürme zu bedenken.
Während ich noch dabei war, die anderen als Opfer des Systems zu sehen statt als Urheber ihrer eigenen Geschichte, fiel mir plötzlich wie Schuppen von den Augen, dass ich mich gar nicht von ihnen unterschied. Es war mir unerklärlich, warum so einfache Gedanken, wie sie der Traumhändler äußerte, eine derart tiefe Wahrheit enthalten konnten. Ich hatte davon geträumt, glücklich zu werden, und das Ergebnis war ein Häufchen Elend. Ich wollte besser leben als mein Vater und hatte schließlich das reproduziert, was ich bei ihm am meisten hasste. Ich hatte davon geträumt, umgänglicher zu sein als meine Mutter, und war nun genauso verstockt und bitter wie sie.
So hatte ich meine Niederlagen nicht zur Pflege meiner Träume genutzt. Ich war ihrer daher nicht würdig gewesen. Ich hasste Risiken und wollte immer alles unter Kontrolle haben. Meinen glänzenden Ruf als Akademiker wagte ich nicht aufs Spiel zu setzen. Dass die großen Denker eine entschiedene Portion Wahnsinn und Risikobereitschaft besessen hatten, war mir entfallen. Nicht wenige von ihnen waren als Spinner und Ketzer abgestempelt und den Raubvögeln zum Fraß vorgeworfen worden. Ich glaube, auch ich bin einer dieser Raubvögel gewesen …
Sogar die Studenten, die bei mir ihren Master machten oder promovierten, hielt ich davon ab, Risiken einzugehen, und ich bremste Kollegen aus, die mehr Mut zu Neuem forderten. Erst als ich mich diesem unberechenbaren Traumhändler angeschlossen hatte, verstand ich, dass die großen Entdeckungen in der Hitze jugendlicher Rebellion gemacht wurden und nicht im gesetzten Alter wissenschaftlicher Reife. Diejenigen, die sich an akademische Regeln halten, bekommen Diplome und Beifall, doch nur der Fantast produziert solche Ideen, die sie sich dann zu eigen machen.
Der Traum des Bartholomäus
E in ungefähr fünfunddreißigjähriger Mann in hellem Polohemd, mit gut geschnittenem dunklem Haar und verschlossenem Gesicht zerstörte plötzlich die allgemeine Harmonie. In aggressivem Ton sagte er zum Meister: »Ich träume davon, meine Frau zu erwürgen.« Er meinte es ernst und schien tatsächlich bald einen Mord begehen zu wollen. Der Meister antwortete nicht, sondern ließ ihm Zeit, seiner Wut Luft zu machen. Und so fuhr der Mann fort: »Was verdient eine Frau, die ihren Mann betrügt?«
Darauf erwiderte der Meister mit einer Gegenfrage, die offensichtlich Öl ins Feuer goss: »Betrügen Sie auch?«
Das provozierte sein Gegenüber derart, dass er ihm einen Faustschlag mitten ins Gesicht versetzte. Der Meister fiel nach hinten. Seine Lippe blutete.
Einige der Umstehenden wollten es dem Aggressor tüchtig heimzahlen, doch der Meister hielt sie zurück: »Lasst ihn in Ruhe.« Er stand auf und wandte sich an seinen Widersacher: »Wir betrügen vielleicht nicht körperlich, aber in Gedanken. Und wenn wir nicht die Person betrügen, die wir lieben, dann betrügen wir uns selbst. Wir betrügen uns um unsere Gesundheit, unsere Träume, unsere innere Ruhe. Haben Sie noch nie einen anderen Menschen oder sich selbst betrogen?«
Dem Aggressor fehlten die Worte. Er nickte nur mit dem Kopf und bestätigte, dass auch er ein Betrüger war.
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