Der Traumhändler
bekümmert, eine Menschenseele zu verlieren, und am Ende umso beglückter, sie wiederzufinden!
Dieses Gleichnis hatte ich damals als übertrieben romantisch kritisiert, und nun zeigte der Traumhändler dieselbe christliche Freude über meine Rettung, was mir jedoch erst nach dem Kuss des torkelnden Säufers wirklich klar wurde. Ich musste zugeben, dass dieser im Grunde klarsichtiger war als ich. Nun machte es mich sprachlos, dass jemand einen völlig Unbekannten so wichtig nehmen konnte. Ja, ich war verloren gewesen und wiedergefunden, »tot« und gerettet worden. Was wollte ich mehr? Sollte ich das etwa nicht feiern? Endlich legte ich meine Förmlichkeit ebenso ab wie mein Statusdenken.
Wie bei all diesen »Normalbürgern« war mein Wahnsinn nur verschleiert. Ich musste spontan sein. Also ließ ich los. Der Meister hatte betont, dass das Herz keine Begründung fordert, um zu schlagen. Der wichtigste Grund dafür, lebendig zu sein und zu bleiben, ist die unergründliche Existenz selbst.
An der Universität hatte ich vergessen, dass die großen Philosophen über den Sinn des Lebens, den Lebensgenuss und das Schöne gesprochen hatten. Ich hatte solche philosophischen Gedanken für verachtenswerte Selbsthilfesprüche gehalten, war voller Vorurteile gewesen. Nun verstand ich, dass ich diese Sätze tief in mich aufnehmen musste. Es war das erste Mal, dass ich tanzte, ohne dass mir der Whiskey zu Kopf gestiegen war. Ich brauchte ein Komma, um weiteratmen zu können. Selten hatte ich mich so gut gefühlt.
Die »normalen Menschen« dürsteten so sehr nach Freude, dass sie, wenn ihnen ein Verrückter über den Weg lief und ihre Gefühle aus dem Gipskorsett befreite, entspannten und Spaß hatten wie die Kinder. Männer in Anzug und Krawatte, Frauen im langen Kleid oder kurzen Rock begannen zu tanzen, und auch Kinder und Jugendliche ließen sich mitreißen.
Mitten unter den Tanzenden war plötzlich auch eine alte Frau mit Krückstock zu sehen, die mit glücklicher Miene wie die anderen umherhüpfte. Es war die Dame, auf die Bartholomäus gefallen war. Sie hieß Jurema und war achtzig Jahre alt. Wer gedacht hatte, dass sie aufgrund ihres hohen Alters humpelte, war im Irrtum. Sie wirkte fitter als ich und erfreute sich abgesehen von leichten Parkinsonsymptomen bester Gesundheit. Außerdem tanzte sie besser als die meisten.
Der Traumhändler war entzückt von ihr, und bald tanzten sie miteinander. Ich rieb mir die Augen. Ich konnte einfach nicht glauben, was ich sah.
Plötzlich machte sich die alte Dame vom Arm des Meisters los, um Bartholomäus, der gerade in ihrer Nähe aufgetaucht war, mit dem Stock sanft auf den Kopf zu klopfen. Dabei rief sie: »Sie Sittenstrolch, Sie!« Ich konnte nicht mehr an mich halten und brach in schallendes Gelächter aus. Sie hatte getan, was ich gern getan hätte, als er mir den alkoholgetränkten Schmatz ins Gesicht gegeben hatte.
Der Meister wandte sich zur alten Dame um. Anstatt sie zu tadeln, rief er: »Du bist wunderschön!«, umfasste ihre Taille und drehte sich mit ihr im Takt. Der alten Dame stieg eine derartige Dosis Adrenalin zu Kopf, dass sie sich fühlte, als sei sie plötzlich wieder zwanzig .
Einen Moment lang hatte ich das Gefühl, dass der Traumhändler es nicht ehrlich meinte. Aber dann fragte ich mich, warum sie nicht wunderschön sein sollte. Was bedeutet es, schön zu sein? Während ich noch nachdachte, hatte der pfiffige Säufer gesehen, dass das Kompliment angekommen war, sodass er sich der alten Dame zuwandte und brüllte: »Du bist wunderschön! Wundervoll! Liebenswert! Bewundernswert!«
Er dachte wohl, damit Eindruck zu schinden, doch die Dame zog ihm ein weiteres Mal den Krückstock über.
»Sie ausgemachter Lustmolch, Sie! Sie billiger Don Juan! Sie geiler Bock!«, rief sie mit gespielter Entrüstung. Bartholomäus ging in Deckung, merkte dann aber, dass sie scherzte. Sie war dahingeschmolzen, denn seit fünfzig Jahren war sie nicht mehr als schön bezeichnet oder mit anderen Komplimenten bedacht worden. Äußerst animiert hakte sie sich beim Säufer unter und tanzte glücklich mit ihm fort. Ich war beeindruckt: Bisher kannte ich nur die Macht der Kritik, aber nicht die Macht des Lobes. Ob diejenigen, die diese Macht nutzten, mehr ausrichteten und besser lebten? Ich war verwirrt. So viel Verrücktheit auf einmal an einem einzigen Tag hatte ich noch nicht erlebt.
Auf der Wanderschaft, die unserer Begegnung folgte, lehrte mich der Mann, dem ich mich angeschlossen
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