Der Traumhändler
nicht zurückhalten, umarmte ihn zur Rührung aller und fragte: »Wo kann ich dich wiederfinden? Wo wohnst du?«
Der Meister antwortete: »Mein Haus ist die Welt. Du kannst mich auf irgendeiner der Straßen des Lebens wiederfinden.«
Dann ging er und ließ seine Zuhörer mit offenem Mund stehen. Ich und meine beiden Freunde waren angesichts seiner Antworten ebenfalls sprachlos. Er hatte uns völlig gefangen genommen und unsere Ungewissheiten zum Schweigen gebracht, zumindest für den Augenblick. Allmählich glaubten wir daran, dass es sich lohnte, ihm zu folgen, ohne jedoch die Stürme zu kennen, die noch über uns hereinbrechen würden.
Langsam durchquerten wir die Menge. Die Leute wollten ihn kennenlernen, mit ihm sprechen, einige Kapitel aus ihrem Leben offenlegen, aber er ging an ihnen vorbei wie ein gewöhnlicher Passant. Er mochte es nicht, gepriesen zu werden. Wir dagegen begannen uns wichtig zu fühlen. Dimas und Bartholomäus, die immer am Rande der Gesellschaft gelebt hatten, plusterten sich auf, befallen von einem Virus, das ich sehr gut kannte.
Ein selbstverliebter Wunderheiler
D er Tag wäre perfekt gewesen, wenn uns nicht noch eine weitere Überraschung erwartet hätte. Die Halle, in der die Trauerfeier für Marco Aurélio stattfand, war in große Räume unterteilt, sodass dort gleichzeitig mehrere Trauerfeiern abgehalten werden konnten. So trafen wir dann auf eine weitere Gruppe, die den Tod einer fünfundsiebzig Jahre alten Dame beklagte.
Der Meister setzte nun seinen Weg nicht etwa weiter fort, sondern nahm einen Unbekannten in den Blick, der soeben an ihm vorbeigegangen war. Es handelte sich um einen Mann von etwa dreißig Jahren mit krausem, kurzem Haar, der einen dunkelblauen Anzug und ein weißes Hemd trug. Er sah schmuck und respektabel aus, und der Traumhändler folgte ihm unauffällig.
Der Mann näherte sich mit sicherem Schritt dem Sarg der alten Dame. Er war eine Art Prediger und wirkte auf mich völlig harmlos, was er in den Augen des Traumhändlers jedoch nicht war. Er stellte sich zu den Füßen der Verstorbenen auf und machte eine ehrerbietige Handbewegung. Dann enthüllte sich nach und nach sein wahres Gesicht, und wir waren fassungslos.
Der Mann hieß Edson, doch sein Spitzname war »der Wunderheiler«, da er sich unwiderstehlich dazu hingezogen fühlte, »Wunder« zu vollbringen. Er wollte den Menschen zwar helfen, hatte dabei aber immer noch andere Absichten: Er liebte es nämlich, sich in den Vordergrund zu spielen. Edson war nicht der bestellte offizielle Trauerredner, sondern vielmehr aus Eigeninteresse gekommen. Es war unglaublich, aber Edson wollte tatsächlich die alte Dame wieder zum Leben erwecken. Er wollte eine Show abziehen, damit die Leute sich ihm zu Füßen werfen, und die Verstorbene dem Tod entreißen, um wegen seiner übernatürlichen Gaben anerkannt zu werden. So, wie Caligula als Gott verehrt werden wollte und seine Macht dafür nutzte, um dieses Ziel zu erreichen, nutzte Edson sein Wissen über biblische Texte und die Macht, die er zu besitzen glaubte, um als Halbgott verehrt zu werden, obwohl er das niemals zugegeben hätte.
Als Soziologe war mir bewusst, dass keine Macht so penetrant ist wie religiöse Macht. Kein Diktator, Politiker, Intellektueller, Psychiater oder Psychologe schafft es, derart in die Psyche anderer einzudringen wie gewisse geistliche Führer. Da sie das Göttliche repräsentieren, schaffen sie es, im kollektiven Unterbewusstsein ihrer Gemeinschaft einen Status zu erlangen, den Napoleon, Hitler, Kennedy, Freud, Marx oder Einstein nie erreicht haben.
Auf unserer Wanderung unterstrich der Meister immer wieder, dass die wahren geistigen Führer, die einen selbstlosen, solidarischen und großzügigen Gott repräsentieren, zum Wohle der Menschheit beitragen, während jene, die einen alles beherrschenden, rachsüchtigen Gott vertreten, der nach ihrem eigenen Bilde gemacht ist, schreckliches Unglück hervorrufen und die Freiheit der Menschen zerstören. Der Traumhändler hatte uns schon häufiger davor gewarnt, unserer blühenden Fantasie nachzugeben, der es so leichtfällt, einen manipulierenden Gott zu schaffen. Es war, als wollte er uns impfen, um uns menschlicher zu machen.
Der Scharlatan auf der Trauerfeier hegte widersprüchliche Absichten. In manchen Augenblicken wollte er zum Wohle der Menschen beitragen und war ehrlich und warmherzig. In anderen war er von Hochmut erfüllt und wollte in ewigem Glanze auf dem Thron sitzen wie ein
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