Der Traumhändler
Beobachtungen. Es war zu lesen, dass ein kühner Unbekannter die Trauerfeiern von ihrer Atmosphäre der Hoffnungslosigkeit befreien und sie zu einer Bühne für die feierliche Ehrung des Verstorbenen machen wollte.
Der Journalist hatte Trauergäste befragt, die den Meister gehört hatten. Einige wollten ihren Verwandten mitteilen, dass sie nach ihrem Tod keine Trauerfeier voller Hoffnungslosigkeit und Selbstmitleid wünschten, sondern ein Fest der Erinnerung an ihre Taten und Worte der Liebe, an ihre Träume und Freundschaften wie auch an ihre Torheiten. Trotz des schmerzlichen Verlusts sollten sich die Herzen derer, die ihnen nahestanden, mit Freude füllen.
Im Artikel war auch zu lesen, dass der geheimnisvolle Fremde derselbe war, der bereits in der Umgebung des Alpha-Gebäudes für Unruhe gesorgt hatte, und er schloss mit zwei Fragen: Hatten wir es mit einem der größten Atheisten zu tun, von denen die Welt je gehört hatte, oder im Gegenteil mit einem Mann von unerklärlicher Spiritualität? Handelte es sich um einen Propheten der modernen Welt oder um einen Verrückten?
Als wir am nächsten Morgen erwachten, war der Meister allein und in Selbstgespräche versunken. Es war das zweite Mal, dass wir ihn so sahen. Er machte dabei Handbewegungen, als hätte er Halluzinationen oder als diskutierte er mit sich selbst. Zehn Minuten später kam er dann entspannt auf uns zu, so als hätte er seine Psyche von allem Unrat gereinigt, der sich darin angesammelt hatte.
Der Himmel war dunkel von schweren Regenwolken, und in der Ferne blitzte es. Dimas hatte zwar keine Angst vor Polizisten und vor dem Kittchen, doch Donner und Blitz versetzten ihn in Schrecken. Wir liefen gerade eine mehrspurige Straße entlang, als es direkt über uns krachte, worauf er sich ängstlich zusammenkauerte.
Ich versuchte, ihn zu beruhigen, indem ich sagte, dass die Gefahr eines Blitzeinschlags bereits vorüber ist, wenn wir den Donner hören. Doch der menschliche Geist ist voller Tücken: Obwohl Dimas dieser Argumentation auf rationaler Ebene folgen konnte, hatte die Einsicht keinerlei Auswirkungen auf seinen angespannten Gemütszustand. Und ich konnte ihn dafür noch nicht einmal kritisieren, denn ich war nicht anders als er: Einerseits hatte ich der wissenschaftlichen Logik immer die größte Wertschätzung entgegengebracht, um andererseits mein ganzes Leben lang unter inexistenten Dingen zu leiden, insbesondere unter meiner Vergangenheit, die mich nicht losließ.
Nun setzte der Regen ein, und wir suchten Schutz in einem Kaufhaus. Noch während wir es betraten, hörten wir einen ohrenbetäubenden Knall, worauf Dimas sich unter dem nächstbesten Tisch verkroch. Er wirkte wie ein kleiner Junge, der sich vor einem Gespenst versteckt. Ich dachte: »Der Meister hat recht. Es gibt keine Helden. Jeder Riese trifft irgendwann auf Hindernisse, die ihn wieder zum Kind machen. Man muss nur lange genug abwarten.«
Der Knall war auf einen Blitzeinschlag zurückzuführen, für den der Blitzableiter auf dem Kaufhausdach zu schwach gewesen war. In einem der Geschäftsräume waren gerade zwei Maler am Werk gewesen. Es waren Vettern. Einer der beiden stotterte noch schlimmer als Dimas, und wenn er nervös war, brachte er kein einziges Wort mehr heraus. Sein Cousin hatte oben auf einer zwei Meter langen Leiter gestanden, um einen metallenen Fensterrahmen zu streichen.
Der plötzliche Blitz war die Wände hinuntergefahren, am Fenster entlang geglitten und hatte ihn getroffen, sodass er von der Leiter fiel. Nun wand er sich vor Schmerzen. Sein entsetzter Vetter eilte zu ihm, um Hilfe zu leisten. Auch wir wollten uns dorthin bewegen, als jemand mit heldenhafter Miene uns zuvorkam. Woher er so plötzlich auftauchte, war schleierhaft, aber er war uns nicht unbekannt: Es handelte sich um den Wunderheiler, den wir am Vortag bei der Trauerfeier gesehen hatten. Dieser sah den am Boden liegenden Mann, der vor Schmerzen wimmerte und sich den rechten Knöchel hielt. Er sah dessen völlig deformierten Fuß und zögerte nicht, dies auf den erlittenen Blitzschlag zurückzuführen. Ohne Zeit zu verlieren, sagte er zum anderen Maler, der dem Verletzten beistand:
»Lassen Sie – ich kümmere mich um ihn. Ich bin ein Fachmann für solche Dinge.«
Er kniete sich neben den liegenden Mann und versuchte, dessen Fuß gerade zu biegen, was ihm aber nicht gelang. Daher setzte er sich zusätzlich auf das Bein und begann, dem Fuß Befehle zu erteilen, im Versuch, seine
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