Der Traumhändler
Welchen Preis er wohl dafür zahlen muss, dass er seine Rituale in der Öffentlichkeit vollzieht? Ist er etwa ein Schwächling oder zeigt er nicht eher bemerkenswerten Mut? Für euch kann ich nicht sprechen, aber stärker als ich ist er zweifellos.«
Wir wurden still, und er fuhr fort: »Wie oft, glaubt ihr, hat sich dieser junge Mann schon wie in einer Zirkusmanege gefühlt? Wie viele schlaflose Nächte hat er hinter sich, in denen ihm das Gelächter der anderen in den Ohren hallte? In wie vielen Situationen ist er abgestempelt und in eine Schublade gesteckt worden, der er nicht mehr entrinnen konnte?«
Und damit uns ganz klar würde, wie sehr unsere Vorurteile zum Himmel stanken, schloss er: »Kritik kann verletzend sein, aber Diskriminierung ist vernichtend.«
Immer wenn der Traumhändler einem ins Herz blickte, fühlte man sich ausgezogen und nackt. Ich verstand, dass selbst Leute wie ich, die die Fahne der Menschenrechte vor sich herschwenkten, in bestimmten Bereichen voller Vorurteile sind und sich, wenn auch nur subtil, durch stumme Gleichgültigkeit oder ein geheucheltes Lächeln gegen die Menschlichkeit versündigen. Wir waren schlimmer als die Vampire, denn wir ernährten uns nicht vom Blut unserer Opfer, sondern töteten es einfach so.
»Wenn ihr den Traum der Solidarität verkaufen wollt, müsst ihr lernen, die nie geweinten Tränen zu erkennen, die nie ausgesprochenen Ängste und die hinter einem reglosen Gesicht verborgene Seelenpein. Wer diese Fähigkeit nicht entwickelt, wird psychopathische Züge ausbilden, auch wenn er sich an so unverdächtigen Orten aufhält wie in den Hochschul- oder Unternehmenstempeln, in den Tempeln der Politik oder der Religionen. Er wird andere unter Druck setzen, verletzen oder nötigen, ohne ihren Schmerz zu spüren. Gehört ihr etwa zu dieser Sippschaft?«, fragte er uns.
Ich atmete tief durch, um mein Gehirn mit Sauerstoff zu versorgen. Ob ich psychopathische Züge an mir hatte? Klassische Psychopathen sind leicht zu erkennen, aber diejenigen mit subtilen psychopathischen Zügen können ihr mangelndes Einfühlungsvermögen auch hinter akademischen Titeln, einer besonders ethischen Einstellung oder ihrer Spiritualität verbergen. Und ich konnte das gut.
So hatte ich meinen Sohn João Marcos nie nach seinen Ängsten oder Frustrationen gefragt, sondern ihm immer nur Regeln auferlegt und ihn kritisiert. Den wichtigsten Traum aber hatte ich ihm nie verkauft, nämlich dass ich ihn kennen und lieben und von ihm geliebt werden wollte. Ich hatte auch nie einen meiner Studenten angesprochen, wenn er traurig, ärgerlich oder teilnahmslos wirkte. Ich hatte nie einem Kollegen meine Schulter angeboten, damit er sich ausweinen konnte. Dozenten waren für mich Fachleute gewesen, keine Individuen. Nie hatte ich kranken Kollegen einen Besuch abgestattet. Und dann hatte sich meine Arroganz gegen mich gekehrt wie ein Bumerang.
Ich war drauf und dran gewesen, meinem Leben ein Ende zu setzen, ohne dass meine Kollegen und Studenten davon etwas ahnten. Ein Intellektueller wie ich konnte seinen Schmerz nicht öffentlich erklären. Nur Schwächlinge hatten Depressionen. So hatte niemand die Verzweiflung bemerkt, die mir heimlich ins Gesicht geschrieben stand. Waren sie alle blind gewesen, oder lag es daran, dass ich meine Gefühle nicht zu zeigen vermochte? Ich weiß es nicht.
Der Meister betonte immer wieder, dass niemand einfach nur Schurke oder einfach nur Opfer ist. Die Leute um mich herum waren so unsensibel gewesen wie ich selbst. Doch nicht Applaus, akademisches Lob oder Glückwünsche waren das, was ich wirklich gebraucht hatte, sondern einfach nur eine Schulter zum Ausweinen, die Wärme eines Menschen an meiner Seite, der mir gesagt hätte: »Ich bin da. Zähl auf mich.«
Nachdem der Meister uns die Augen für den Mut und die Größe des zwangsgestörten jungen Mannes geöffnet hatte, forderte er uns heraus: »Wollt ihr diesem Mann Träume verkaufen?«
Dann schwieg er und wartete auf Antwort.
Für Sekunden, die uns wie eine Ewigkeit schienen, standen wir herum mit einem Kloß im Hals und dachten nur: »Wir sind verloren!« – eine doch ziemlich seltsame Reaktion für einen Haufen angeblich erfahrener Männer. Was sollten wir dem jungen Mann sagen? Was würde er von uns denken? Noch vor wenigen Minuten hatten wir ihn als Verrückten abgetan und nun fürchteten wir, von ihm als Verrückte abgetan zu werden. Wenn das nicht geisteskrank war! Wir fielen ständig von einem Extrem
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