Der Traumhändler
übernatürlichen Kräfte zu aktivieren.
»Heile! Werd wieder gerade! Richte deine Knochen aus!«
Aber der Knöchel blieb verbogen. Der gequälte Maler wimmerte lauter. Der Wunderheiler packte stärker zu. Es konnte doch nicht sein, dass er außerstande war, einen derart simplen Fall zu lösen. War er denn in Gottes Gunst derart gesunken? Der Mann brüllte vor Schmerz. Die Menge der Schaulustigen wurde größer, was den »guten Samariter« in der Zurschaustellung seiner übernatürlichen Wohltätigkeit noch anspornte.
Unter denen, die ihn beobachteten, dachten viele, er sei Arzt und seine Handgriffe dienten dazu, die Schmerzen des Verletzten zu lindern. Dessen stotternder Vetter stieß ein verzweifeltes Krächzen aus, so als wollte er Edson etwas mitteilen, doch der fühlte sich dadurch in seiner Konzentration gestört. Er verlor die Geduld und sagte zu ihm: »Beruhigen Sie sich! Ich werde das Bein dieses Mannes wieder gerade biegen!«
Und er schaffte es wirklich. Zwei lange Minuten später hatte der Wunderheiler seine Mission erfüllt. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und sagte zum Publikum, obwohl der Maler sich umso stärker vor Schmerzen wand: »Das Fußgelenk ist wieder heil.«
Der Maler betrachtete seinen Knöchel und schien verzweifelter denn je. Wir dachten, es läge am Schock.
Als die Zuschauer gerade begannen, Edson zu applaudieren, löste sich die Zunge des Stotterers. Er wollte dem Wunderheiler eine Ohrfeige verpassen und brüllte: »Hau ab! Du Schlächter! Du Scharlatan!«
Keiner verstand, was vor sich ging, nicht einmal der Meister. Es schien, als wäre der Stotterer ein undankbarer Geselle. Doch dieser erklärte: »Mein Vetter hat seit dreißig Jahren einen verkrüppelten Fuß! Er hatte immer Angst vor der Operation. Und jetzt kommt dieser Mistkerl und biegt ihn wieder grade … und das ohne Narkose!«
Die Stimmung schlug um, und die Menge, die Sekunden zuvor dem Wunderheiler noch applaudieren wollte, war nun drauf und dran, ihn zu verprügeln. Doch der Meister hinderte sie daran. Mit einer bemerkenswerten Frage hielt er den aufgebrachten Mob zurück und rettete den Mann, der die Macht liebte: »Wartet! Warum wollt ihr ihn verletzen? Was ist mehr wert: seine Tat oder seine Absicht?«
Die Leute wurden nachdenklich, beruhigten und zerstreuten sich allmählich. Bartholomäus sagte schüchtern: »Chef, kannst du das erklären, please ?«
Unser gerade erst trockengelegter Alkoholiker, der jeden Moment rückfällig werden konnte, gab weiterhin gern mit seinen paar Brocken Englisch an.
Der Meister erläuterte mit ruhiger Stimme: »Die Taten eines Menschen können tadelnswert sein und verurteilt werden, aber das, was zuallererst betrachtet werden muss, sind seine wahren Absichten.«
Edson hatte zum allerersten Mal ein »Wunder« vollbracht und wäre dafür fast gelyncht worden. Wir hatten seine Haltung wieder einmal ausschließlich anhand seiner Taten beurteilt, ohne die altruistischen Absichten dahinter zu erkennen. Wir wollten ihn einfach nur so weit wie möglich fernhalten von unserem Projekt. Bevor wir etwas sagen konnten, tat der Meister nun das, was wir am meisten fürchteten. Er sah den Wunderheiler an und sagte zu ihm, als wäre es das Natürlichste auf der Welt: »Komm und folge mir. Ich werde dir Wunder zeigen, die du noch nicht kennst, Wunder, die dieses alles erstickende System etwas durchlässiger machen können.«
Bartholomäus, Dimas und ich fielen uns in die Arme. Wahrscheinlich dachten die Leute, wir wären gerührt, doch wir waren furchtbar enttäuscht. Wie leicht man doch vom Virus des Vorurteils befallen wird! Wir hatten eine kleine Clique gebildet und akzeptierten darin zwar Diebe, Trinker und Leute mit krankhaftem Stolz, diskriminierten aber religiöse Menschen und erst recht sogenannte Wunderheiler.
Nun waren wir herausgefordert, den Willen des Meisters mit noch größerer Geduld und Toleranz zu akzeptieren. Doch die Gruppe würde mit Edson eine Färbung erhalten, die uns widerstrebte.
Der Wunderheiler hingegen war begeistert von der Einladung. Er verstand sie zwar nicht, hatte aber bemerkt, dass der Mann, der ihn gerufen hatte, obgleich exotisch, über große Überzeugungskraft verfügte. Wenn er, Edson, auch nur einige seiner rhetorischen Kniffe erlernen konnte, würde er sicher noch weit kommen. Aber er hatte keine Ahnung, auf welchem Boot er sich einschiffte. Er konnte sich nicht vorstellen, auf welch schmerzhafte Weise er von seinem Machthunger geheilt
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