Der Traumhändler
was sich uns darbot.
Dann führte er uns in eine belebte Allee in der Innenstadt, gab jedem ein knitteriges Blatt Papier und einen billigen Kugelschreiber und forderte uns auf, alle interessanten Geräusche und Bilder zu notieren, die nicht vom Menschen stammten. Der Verkehrslärm war ohrenbetäubend, die Luft voller Abgase und das betriebsame Hin und Her groß. Was sollte uns anderes auffallen als die Farben von Läden und Waren, die unterschiedlichen Modelle vorbeifahrender Autos und das Äußere der Passanten? Und was hatte das mit der Veränderung des menschlichen Denkens zu tun? Welcher Zusammenhang ließ sich zwischen der Kunst der Beobachtung und dem Verkauf von Träumen herstellen? Die Übung schien mir banal und keinerlei intellektuelle Herausforderung zu sein.
Doch schon nach kurzer Zeit fing der Meister an, uns zu provozieren.
»Wer seine Beobachtungsgabe nicht schult, geht an der Fülle des Lebens vorbei. Er mag eine wandelnde Enzyklopädie sein, wird aber nie große Ideen entwickeln.«
Ich musste daran denken, wie ich am Vortag keinen Blick für das komplexe menschliche Wesen übrig gehabt hatte, das sich hinter den Ritualen Salomons verbarg. Meine Beobachtungsgabe war verkümmert. Ich sah nur, was jedem »normalen Menschen« auffällt.
Auch Edson und Dimas wussten nicht, was sie mit dem Blatt Papier anfangen sollten, und Bartholomäus summte in der vergeblichen Hoffnung auf Inspiration vor sich hin und schaute sich um, kam aber nicht weiter und verharrte schließlich regungslos. Die Minuten vergingen, und keiner von uns machte irgendeine interessante Entdeckung, mit Ausnahme von Salomon. Der schien tatsächlich seine Zwangsneurose vergessen zu haben und schrieb ununterbrochen und begeistert irgendetwas auf seinen Zettel.
Ab und zu hörte man ihn ausrufen: »Wow! Das ist ja unglaublich! Fantastisch!«
Ich war derweil vollständig blockiert. Da verpasste mir der Traumhändler einen Stoß in die Rippen: »Du kannst die Kunst der Beobachtung erst dann entfalten, wenn du die schwierigste Kunst des menschlichen Intellekts beherrschst!« Die Erklärung, welche das sei, blieb er mir aber zunächst schuldig.
Ein Weilchen später erläuterte er: »Es ist die Kunst, nicht zu denken. Manch ein glänzender Geist hat sein Leben schließlich im Mittelmaß verbracht, weil er seine Gedanken nicht im Zaum halten konnte. Große Schriftsteller, bemerkenswerte Wissenschaftler, wunderbare bildende Künstler haben ihre Inspiration überstrapaziert, weil ihr Geist nie zur Ruhe kam. Die Gedanken, mentalen Bilder und Fantasien, die die Kreativität beflügeln können, stutzen auch deren Flügel und blockieren, wenn sie überhandnehmen, Intuition und Einfallsreichtum.«
»Das ist genau mein Problem!«, dachte ich. Mein Geist war ständig in Aktion. Ich war aufs Denken spezialisiert, auch wenn es Blödsinn war, und immer ein Feind der Stille gewesen. Aber nach diesen Worten versuchte ich, meine innere Stimme zum Schweigen zu bringen. Es war nicht einfach, denn mein Hirn wurde von Bildern überschwemmt. Sie folgten aufeinander mit einer Geschwindigkeit, die höher war als die der Autos auf der mehrspurigen Straße, an der wir standen. Ich litt unter geistiger Verschmutzung.
Zunächst waren meine Freunde genauso verloren wie ich. Doch nach und nach fanden wir tatsächlich den Eingang zur unendlichen Welt der Stille. Von da an schärfte sich unsere Wahrnehmung. Ich hörte plötzlich den durchdringenden Ruf eines Vogels, der mit unglaublich langem Atem eine wunderschöne Melodie sang, die ich notierte. Dann hörte ich den weinerlichen Singsang eines anderen Vogels und sah, wie ein Täuberich einen Balztanz für eine Taube vollführte.
Schließlich hatte ich über zehn außergewöhnliche Vogelmelodien aus dem Straßenlärm herausgehört. Auch wenn sie in dieser kargen Betonlandschaft eigentlich keinen Grund zur Freude hatten, jubelten die Vögel, ganz im Gegensatz zu mir. Dann fiel mir die Zähigkeit, ja Tapferkeit der verwitterten Baumstämme auf, die hier trotz undurchdringlicher Böden und mangelnder Wasserversorgung überlebten. Im Vergleich zu ihnen war ich überaus feige. Millionen von Menschen waren im Laufe der Jahre an diesen Bäumen vorbeigegangen, und höchstens zehn hatten sie vielleicht im Detail betrachtet. Ich begann, mich in dieser gesellschaftlichen Wüste als Privilegierter zu fühlen.
Bartholomäus, der normalerweise nicht mal einen Elefanten vor seiner Nase sehen würde, hatte schließlich auch Erfolg.
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