Der Traumhändler
darin, die Lektion auf ihrem Höhepunkt zu unterbrechen.
»Wir haben ja noch nicht mal ein Zuhause! Wir wohnen doch unter der Brücke!«
Die Leute lachten, und Bartholomäus merkte, dass er dummes Zeug geredet hatte. Doch der Meister tadelte ihn nicht, sondern lächelte über seine Spontaneität. Er war einfach ein hyperaktives und vorlautes Kind, und für den Meister war die Spontaneität die Mutter der Freiheit.
Im Gegensatz zu Honigschnauze hatten die meisten Menschen ihre Spontaneität in Schule, Kirche und Firma getötet. Auch die Messebesucher waren Roboter, die andere Maschinen bewunderten. Sie sagten nicht, was sie dachten.
Da ging ich in mich und merkte, dass ich mich gar nicht von ihnen unterschied. Im Namen der Diskretion war ich förmlich, überlegt und zurückhaltend. Ich kannte mich selbst nicht und ließ auch nicht zu, dass andere mich kennenlernten. Und ich war darauf spezialisiert, so zu tun, als sei alles gut. Es fiel mir schwer zuzugeben, dass Honigschnauze mir etwas voraushatte.
Ruhig sagte der Meister zu ihm: »Du hast recht, Bartholomäus. Wir haben kein Zuhause, aber wir sind auf der Suche nach dem besten Zuhause, das es gibt. Denk nur an unser Lied!«
Und wieder einmal verblüffte er seine Zuhörer mit seiner Exzentrik. Er unterbrach seine Rede, um sein Lied anzustimmen, und wedelte dabei wie ein Dirigent mit den Armen, sodass wir mit einfielen. Bei den ersten Zeilen war ich noch völlig steif, während Honigschnauze und Dimas bereits aus voller Brust sangen.
Wir stiegen von den hohen Bergen der Reflexion hinab, um ein entspannendes Bad im Wasserfall der Freude zu nehmen:
Ein einfacher Wandersmann bin ich,
Der keine Angst mehr hat, sich zu verlaufen.
Meine Unzulänglichkeiten kenne ich.
Nennt mich ruhig verrückt
Und macht Euch über mich lustig!
Was soll’s!
Was zählt, ist, dass ich ein Wandersmann bin,
Der den Passanten Träume verkauft.
Ich habe weder Kompass noch Agenda,
Ich habe nichts, doch habe alles.
Ein einfacher Wandersmann bin ich,
Auf der Suche nach mir selbst.
Manche der Umstehenden wussten gar nicht mehr, was sie denken sollten. Verwirrt fragten sie sich gegenseitig: »Was ist das für eine Combo? Von wo sind die aufgetaucht? Was ist das für ein Dirigent? Ob die Schleichwerbung für einen der Aussteller machen?«
Andere ließen sich mitreißen und sangen mit; sie hatten die Angst davor verloren, sich gehen zu lassen, und sie hatten entdeckt, dass sie nicht Forscher, Ingenieure oder Unternehmer waren, sondern einfache Wanderer wie wir.
Wieder andere schimpften: »Der Typ ist ja völlig durchgeknallt!«, und gingen erbost von dannen.
Die Reaktionen waren zwar widersprüchlich, aber jedenfalls war es unmöglich, dem vorwitzigen, schäbig gekleideten Mann gegenüber gleichgültig zu bleiben, der mit seinen Worten die intimsten Winkel der Einsamkeit erreichte. Wir schauten uns um und sahen, dass einige Leute auch gerührt waren, insbesondere zwei elegante Geschäftsfrauen. Obwohl sie von Menschen umgeben waren, fühlten sie sich völlig verlassen. Sie waren beruflich erfolgreich, aber unglücklich.
Als der Traumhändler merkte, dass die Leute nachdenklich geworden waren, sprach er noch ein weiteres Thema an, indem er zunächst etwas fragte, was offensichtlich zu sein schien: »Ist die durchschnittliche Lebenszeit heute wirklich länger als in der Vergangenheit?«
Einer der Zuhörer preschte vor und rief: »Natürlich, was glauben Sie denn?!«
Der Meister blickte erst auf seine Schüler, insbesondere auf mich, dann auf die Menschenmenge, und widersprach: »Nein! Wir sterben heute früher als in der Vergangenheit!«
Darauf machten sich die Zuhörer über den Meister lustig, und ich fand, dass er sich diesmal wohl in seinen eigenen Fallstricken verheddert habe. Einer der Wissenschaftler konnte sich nicht mehr bremsen und rief höhnisch: »Was für ein Blödsinn! Jeder schlechte Student weiß doch, dass sich die durchschnittliche Lebenszeit durch Hygiene und Impfstoffe erhöht hat.«
Der Traumhändler war aber nicht dumm, sondern wusste ganz genau, wovon er sprach.
Er sah den Mann an und bemerkte: »Bei den Römern lag die durchschnittliche Lebenserwartung bei knapp vierzig Jahren, im Mittelalter bei knapp fünfundvierzig. Heute liegt sie immerhin bei fast achtzig Jahren. Ich spreche aber von der durchschnittlichen Lebenszeit des Geistes. Geistig sterben wir heute früher. Haben Sie etwa nicht das Gefühl, dass Sie im gleichen Alter eingeschlafen und wieder erwacht
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