Der Traumhändler
wiederholten. Und er schloss: »Das Leben verrinnt schnell. Die große Herausforderung besteht darin, es mit Bedacht und Begeisterung zu leben.«
Diese Worte erinnerten mich daran, dass die Tage im letzten Jahr so schnell vergangen waren, dass ich es nicht einmal gemerkt hatte. Jetzt dagegen, in dieser ungewöhnlichen Familie, waren sie viel länger und intensiver geworden.
Nun wurde dem Meister schwindelig. Der Stress der Auseinandersetzung mit den Sicherheitsleuten, die Prügel, die er bezogen hatte, und die Anstrengung seiner Rede hatten ihn völlig erschöpft. Wir mussten ihn stützen und halfen ihm vom Mäuerchen herunter. Dann fassten ihm Salomon und Dimas unter die Arme und führten ihn vom Messegelände hinaus auf die Straße.
Sein Abgang wurde von herzlichem Applaus begleitet, und wir schlugen den Weg zur Brücke ein, die nur einen Katzensprung entfernt war.
Ein Mann hielt uns auf und sagte sehr aggressiv: »So viel Schwachsinn auf einmal hab ich ja noch nie gehört! Sie sind doch ein Betrüger, ein Bauernfänger, ein Blender!«
Wir wurden wütend, aber der Meister beschwichtigte uns und antwortete dem Mann: »Ich hoffe wirklich, dass meine Gedanken schwachsinnig sind und die Ihren weise!«
Dann setzte er seinen Weg fort, und die Leute schauten ihm nach. Sie waren beeindruckt und fragten sich: »Will er eine neue Gesellschaft schaffen?« Oder: »Woher nehme ich die Kraft für die nötigen Einschnitte in meinem exzessiven Lebensstil?« Einige hatten schon früher davon geträumt, sich aufs Land zurückzuziehen und Orchideen zu züchten oder Tiere zu halten; andere wollten immer schon einen zweiten Anlauf wagen und die Arbeitsstelle wechseln oder ehrenamtlich tätig werden, zum Beispiel in Krebskrankenhäusern oder Kinderkliniken. Doch in ihrem exzessiven Leben hatten sie diese Pläne bisher auf unbestimmte Zeit verschoben. Diesmal gingen sie jedoch nachdenklich nach Hause und konnten nicht schlafen, weil sie verstanden hatten, dass sie die Angst davor verlieren mussten, Umwege zu machen oder sich gar zu verlaufen.
Langsam kam heraus, dass unser Meister nicht nur Träume, sondern auch schlaflose Nächte unters Volk brachte.
Wir waren noch nicht unter der Brücke angelangt, als uns obendrein eine elegante Dame ansprach. Wir wollten sie abwimmeln, doch der Meister vergaß für einen Augenblick seinen angegriffenen Zustand, um ihr zu lauschen.
Deprimiert erzählte sie: »Meine kleine Tochter ist sechs Jahre alt und hat Krebs. Nach Meinung der Ärzte hat sie nur noch drei Monate zu leben. Ich kann nicht mehr! Ich möchte an ihrer Stelle sterben! Immer wenn ich sie ansehe, bin ich so verzweifelt, dass ich es zu Hause nicht mehr aushalte. Dabei ist sie so wunderbar – manchmal versucht sie sogar, mich zu trösten!«
Wir waren voller Mitleid und schämten uns für die Grobheit, mit der wir die Frau hatten abweisen wollen.
Der Meister sagte: »Meine Liebe – ich kann keine Wunder vollbringen und deine Tochter wieder gesund machen. Aber ich kann dir folgenden Rat geben: Bedenke, dass drei schlecht gelebte Monate wie Sekunden vorüberziehen, während drei in Fülle gelebte Monate wie eine Ewigkeit scheinen. Begrabe deine Tochter nicht unter deiner Angst! Geh nach Hause, entdecke sie neu und lass sie dich entdecken. Erlebe die verbleibende Zeit mit ihr so intensiv und fröhlich du kannst!«
Ermutigt ging die Frau nach Hause, um aus jeder Minute einen einzigartigen Augenblick zu machen. Wir wussten zwar nicht, ob ihre kleine Tochter dadurch länger leben würde. Aber wir waren sicher, dass die beiden in drei Monaten ein reicheres Leben führen würden als die meisten Eltern mit ihren Kindern in dreißig Jahren.
Ich musste daran denken, wie ich selbst als Vater gewesen war, und wollte am liebsten sofort zu João Marcos rennen und ihn bitten, mir meine Oberflächlichkeit und Gefühlskälte zu verzeihen.
Verführerisches Rampenlicht
A uf dem Rückweg zu unserem Lager unter der Brücke blieb Bartholomäus plötzlich hinter uns zurück. Ein Reporter hatte ihn angesprochen, um ihn über den geheimnisvollen Traumhändler und seine Absichten zu befragen.
Bartholomäus war äußerst entzückt und aufgeregt darüber, ein Interview geben zu dürfen. Er merkte gar nicht, dass er vermintes Gebiet betrat.
Ohne Umschweife fragte der Journalist: »Stimmt es, dass dieser Mann Sie aufgefordert hat, ihm zu folgen, ohne Ihnen Geld oder irgendwelche Sicherheiten zu bieten?«
»Ja«, antwortete Bartholomäus
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