Der Traumhändler
er zu jenen Familien gereist, die gerade ihre Tochter verloren. Mit Augen voller Tränen kehrte er nach einer Weile zurück und sagte mit vernehmlicher Stimme: »Luzia, ein schüchternes, aber vielseitiges und kreatives Mädchen und eine sehr gute Schülerin, wiegt bei einer Körpergröße von 1,66 Metern nur 34 Kilo. Sie ist nur noch Haut und Knochen, doch vor lauter Angst, zuzunehmen, verweigert sie trotzdem jede Nahrung. Marcia, ein fröhliches, extrovertiertes und bezauberndes Mädchen, ist 1,60 Meter groß, wiegt aber nur 35 Kilo. Ihre leichenhaften Gesichtszüge treiben ihre Eltern und Freunde zur Verzweiflung, aber auch sie weigert sich, zu essen. Bernadette wiegt 43 Kilo bei einer Körpergröße von 1,70 Metern. Sie war lebenslustig und kommunikativ, bevor sie begann, sich von ihrem Freund und ihrer Clique zurückzuziehen und sich zu isolieren. Rafaela ist 1,83 Meter groß und wiegt nur 48 Kilo. Sie spielte Volleyball und joggte gern am Strand, aber jetzt stirbt sie langsam an Unterernährung.«
Wieder machte er eine Pause, schaute seine Zuhörer aufmerksam an und fuhr dann fort: »Während ich hier spreche, sind vier weitere junge Mädchen der Magersucht verfallen. Einige von ihnen können diese Störung überwinden, andere nicht. Und wenn ihr sie fragt, warum sie nicht essen, antworten sie: ›Weil ich zu dick bin!‹ Ihr ganzer Körper schreit verzweifelt nach Nahrung, aber sie sind so unerbittlich zu sich selbst, dass sie am Ende nicht einmal mehr die Kraft haben, sich zu bewegen. Der selbstquälerische Wille, die idealen Körpermaße zu erreichen, hat sie schwer krank gemacht und einen lebenswichtigen Instinkt blockiert, den wir auf natürlichem Wege gar nicht unterdrücken können, nämlich den, uns zu ernähren.
Würden diese Mädchen einem Naturvolk angehören, in dem die Schönheitsvorstellungen gesünder sind, würden sie nicht krank werden. Aber sie leben in der modernen Gesellschaft, die nicht nur eine selbstzerstörerische Magerkeit idealisiert, sondern auch unnatürlich ebenmäßige Gesichtszüge und einen normierten Brust- und Taillenumfang, was dazu führt, dass die Mehrheit der Frauen diskriminiert wird, weil sie dieser Kunstfigur nicht entspricht. Und das Schlimmste ist, dass das alles unterschwellig abläuft.
Ich will nicht abstreiten, dass manche Essstörungen auch auf Stoffwechselerkrankungen zurückzuführen sind, aber der gesellschaftliche Einfluss ist nicht zu verleugnen und unverzeihlich. Weltweit leiden inzwischen fünfzig Millionen Menschen unter Magersucht – eine Zahl, die sich jener der Toten im Zweiten Weltkrieg annähert.«
Nun verlor der Meister seine Nüchternheit und wechselte den Tonfall. Er kletterte auf einen Sessel, der neben ihm stand, und brüllte wie ein Psychotiker: »Das Gesellschaftssystem ist äußerst schlau, denn es schreit, wenn es schweigen, und
es schweigt, wenn es schreien sollte. Nichts gegen Laufstegschönheiten und intelligente, kreative Modeschöpfer, aber das System hat vergessen, herauszuschreien, dass Schönheit nicht normiert werden kann.«
Der exzentrische Mann, der seine Ideen derart hinausposaunte, lockte noch mehr Publikum an, und so blieben auch einige internationale Models und weltberühmte Designer stehen, um ihm zuzuhören.
Sicher wehrten sich hie und da schon Menschen gegen die genannte Diskriminierung, aber ihr Kampf war angesichts der Ungeheuerlichkeiten des Systems noch ziemlich sacht. Der Traumhändler jedoch war nicht zurückhaltend und geduldig, sondern zeigte seine Irritation und Auflehnung.
Er war jetzt sehr erregt und bediente sich erneut der sokratischen Methode, um seine Zuhörer durch Fragen zur Einsicht zu bringen: »Wo bleiben bei den Modenschauen die Dickerchen? Wo bleiben die jungen Frauen ohne Idealfigur? Wo bleiben diejenigen mit großer Nase? Warum verstecken sich die Frauen mit Reiterhosen oder Dehnungsstreifen? Sind sie etwa keine Menschen? Sind sie etwa nicht schön? Ist diese gesellschaftlich akzeptierte Diskriminierung nicht eine Vergewaltigung ihrer Person und ebenso gewalttätig wie der Rassismus? Warum unterhöhlt die Modewelt, deren Aufgabe es sein sollte, das Wohlbefinden zu steigern, das weibliche Selbstwertgefühl?«
Die vehemente Kritik führte dazu, dass mich das System langsam anekelte. Doch gerade als der Meister uns wirklich nachdenklich gemacht hatte, schaffte es Bartholomäus wieder einmal, den total falschen Ton anzuschlagen. Mit der größten Unverschämtheit gab er vor, dem Meister
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