Der Traumhändler
vereinheitlicht, sodass es steril wird und sie nur noch vorgegebene Informationen nachplappern. Was haben die bloß mit unseren Kindern gemacht?«, fragte sie empört.
Ich wurde immer unruhiger und wollte ihren vollständigen Namen wissen.
Sie antwortete schlicht: »Jurema Alcântara de Mello«, und ich war wie vor den Kopf gestoßen. Dona Jurema war tatsächlich die renommierte, international anerkannte Anthropologin und frühere Universitätsprofessorin, die in Harvard habilitiert und fünf wissenschaftliche, in mehrere Sprachen übersetzte Bücher geschrieben hatte.
Mir war schwindelig, und ich lehnte mich an den nächstbesten Laternenpfahl. Nicht nur hatte ich selbstverständlich ihre fünf Bücher, sondern auch verschiedene Aufsätze von ihr gelesen. Sie war für meine wissenschaftliche Ausbildung sehr wichtig gewesen, und ich hatte ihre kühne Gedankenführung immer bewundert. Und diese Frau wollte ich noch vor wenigen Minuten aus unserer Gemeinschaft ausschließen! Wie engstirnig und voreingenommen ich doch war! Wo blieb mein Traum von Offenheit und Uneigennützigkeit? Wer würde mir das geistige Krebsgeschwür der Vorurteile aus der Brust reißen?
Als die pensionierte Professorin nun darlegte, dass die Gesellschaft nur noch Konformisten hervorbrächte, die sich von der Komplexität der Existenz nicht erschüttern ließen, keine großen Ideale mehr hätten und nicht danach fragten, wer sie eigentlich sind, war allen klar, dass sie und der Meister auf der gleichen Wellenlinie lagen.
»Wir müssen die Intelligenz der Menschen herausfordern!«, schloss sie, und der Traumhändler lächelte glücklich. Er dachte wohl: »Ich habe ins Schwarze getroffen.« Dona Jurema war subversiver als wir alle zusammen und mit zunehmendem Alter immer radikaler geworden. Doch die Probleme ließen nicht auf sich warten, denn die alte, bemerkenswert mutige Dame sah keine Veranlassung, ihre Zunge im Zaum zu halten, und zog dem Meister und seiner Sippschaft mit größter Selbstsicherheit erst einmal die Ohren lang: »Ein Haufen Sonderlinge, der mit Träumen handelt, ist in Ordnung, aber eine Horde verdreckter und verwahrloster Gestalten ist völlig inakzeptabel!« Hui! Das saß! In uns stieg Ärger auf. Aber Dona Jurema linderte ihn keineswegs, im Gegenteil: »Eine Handvoll Außenseiter um sich zu scharen und sie zu lehren, solidarisch zu sein, ist löblich, aber sich nicht darum zu scheren, ob sie stinken, weil sie sich nicht waschen, hat mit gesundem Menschenverstand rein gar nichts mehr zu tun.«
Nach diesem Tadel schwieg der Meister. Dimas konnte die Stille jedoch nicht ertragen und stotterte: »M… Meine kleine Ju… Jurema, b… bitte, seien S… Sie do… doch nicht so streng!«
Bisher hatte es nur Bartholomäus gewagt, sie so anzusprechen.
Dona Jurema ließ sich nicht foppen. Sie ging auf Dimas zu, schnüffelte an ihm herum und gab zurück: »Nicht so streng? Du stinkst aber nach faulen Eiern!«
Bartholomäus feixte. Er und Engelskralle lagen sich ständig in den Haaren.
»Hab ich’s nicht gesagt? Die ganze Zeit schon halte ich diesen Gestank aus! Ich bin ein Held!« Er freute sich so, dass seine Peristaltik in Gang kam und einen sonoren Furz entweichen ließ.
Dona Jurema wies ihn zurecht: »Schämen Sie sich nicht? Lassen Sie Ihre Blähungen gefälligst nicht mitten unter Menschen los. Und wenn Sie nicht anders können, dann tun Sie‘s wenigstens leise!«
Honigschnauze wollte aber noch ein bisschen Öl ins Feuer gießen und fragte sie: »Und mit welcher Technik krieg ich meinen Auspuff leise?«
Darauf erwiderte sie trocken: »Kneifen Sie einfach das Hinterteil zusammen, Sie skurriler Schelm!«
Er zog den Kopf ein, und da er nicht wusste, was »skurril« bedeutet, rief er: » Thanks für den Spitznamen!« Dabei wedelte er mit den Händen, so als wollte er fragen, ob sie ihm ein Kompliment gemacht oder ihn beleidigt hatte.
Wir schielten derweil besorgt zum Meister, der sich etwas hilflos am Kopf kratzte. Offensichtlich würde unser neues Familienmitglied uns im wahrsten Sinne des Wortes mit kaltem Wasser übergießen. Und tatsächlich tat Dona Jurema nun etwas, was wir niemandem zugetraut hätten. Sie forderte den Traumhändler heraus: »Kommen Sie mir jetzt nicht mit der Geschichte, Jesus habe diejenigen, die auf die Reinheit des Körpers achten, aber die des Herzens vergessen, als Heuchler bezeichnet. Sicher müssen wir uns um ein reines Herz bemühen, aber ohne dabei die äußere Reinlichkeit zu
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