Der Traumhändler
Werten lebte er? War ihm die Kürze des Lebens bewusst oder hielt er sich für unsterblich?«
Überrascht wusste die pensionierte Wissenschaftlerin nicht, was sie antworten sollte. Sie hatte den jungen Mann nicht gerade häufig persönlich gesehen. Er war immer höchst beschäftigt gewesen, mit Terminen in Königshäusern und Präsidentenpalästen, während sie nur eine einfache Professorin war. Aber sie sagte, ihr Ehemann hätte ihn sehr gemocht.
»Ich weiß vom Hörensagen, dass er ein herzensguter und sehr zuvorkommender Mensch gewesen sein muss. Aber nach dem Tod meines Mannes vor sieben Jahren habe ich nicht mehr viel von ihm gehört, außer dass in seiner Familie ein Unglück geschehen ist. Ich glaube, er hatte seelische Probleme. Dann erzählte man sich, er sei gestorben, aber die Presse hat die Angelegenheit totgeschwiegen. Angeblich wäre er heute, wenn er noch lebte, der reichste Mann der Welt.«
Der Meister blickte in die Runde und sagte dann: »Meine liebe Jurema, Sie sind in Ihrer Einschätzung dieses Mega-Unternehmers sehr großzügig. Auch ich habe von ihm gehört, von seiner Courage, seinen Geschäftserfolgen und seinem angeblichen Tod. Aber wir sollten nicht nur die positiven Seiten derjenigen hervorheben, die von uns gegangen sind, sondern auch ihre Schwächen nicht verschweigen. Jemand, der ihn sehr gut gekannt hat, erzählte mir, er wäre äußerst ehrgeizig gewesen und hätte für nichts anderes mehr Zeit gehabt als für die Vermehrung seines Kapitals. Das, was in seinem Leben eigentlich am wichtigsten war, hat er darüber leider vergessen.«
Dann fügte er mit ernster Miene ein paar bemerkenswerte Sätze an: »Ich bitte euch nicht darum, Geld und materielle Güter abzulehnen. Auch wenn wir heute lieber unter Brücken schlafen und uns mit dem Himmel als Bettdecke begnügen, so wissen wir nicht, was das Morgen bringt. Ich möchte, dass ihr Folgendes versteht: Geld allein macht nicht glücklich, aber das Fehlen von Geld kann sehr unglücklich machen. Geld allein macht nicht krank, aber die Liebe zum Geld macht schlaflose Nächte und einen unruhigen Geist. Kein Geld zu haben bedeutet Armut, aber der schlechte Umgang mit Geld bedeutet Armseligkeit.«
Wir wurden nachdenklich.
»Chef, pleite und glücklich zu sein ist gut, aber mit Geld ist alles noch viel besser!«, schlussfolgerte Bartholomäus und schlürfte brav sein Kokoswasser, während wir kostbaren französischen und chilenischen Wein tranken. Der Meister lächelte. Es war nicht leicht, diesem »Straßenphilosophen« tiefschürfende Gedanken nahezubringen.
Als wir am nächsten Tag im Stadtzentrum unterwegs waren, kamen viele Leute mit glänzenden Augen auf den Traumhändler zu, um ihn zu umarmen und manchmal sogar zu küssen. Er war mittlerweile berühmter als jeder Politiker und damit auch immer mehr ihrem Neid ausgesetzt.
Vor den Toren eines riesigen Einkaufszentrums begannen die Leute, sich um ihn zu scharen, sodass er die Treppenstufen zur Eingangstür hochstieg und zu einer seiner faszinierenden Reden ansetzte. Diesmal war es eine philosophische Interpretation der berühmtesten Predigt Jesu, der Bergpredigt.
Wir wussten bereits, dass er diese Predigt liebte, denn er hatte Mahatma Gandhi zitiert, dass die Welt auch dann nicht ohne Licht wäre, wenn alle heiligen Schriften der Welt geächtet würden und nur die Bergpredigt übrig bliebe.
»Selig sind die geistig Armen, denn ihnen gehört das Himmelreich der Weisheit. Aber wo sind die wahren Armen, die sich ihrer selbst entledigt haben? Wo sind diejenigen, die bescheiden ihre Torheit zugeben und mutig zu ihren Schwächen stehen? Wo sind diejenigen, die tagtäglich ihren Stolz bekämpfen?«
Er richtete seinen aufmerksamen Blick auf die betretenen Gesichter der Zuhörer, atmete tief durch und fuhr fort: »Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen. Aber was für eine Welt werden sie besitzen? Gemeint ist eine Welt des Friedens und der aufrichtigen Liebe zu allem Leben! Und wo sind diese Sanftmütigen? Wo sind die Menschen mit offenem Herzen? Wo verstecken sich die Freunde der Toleranz, der Geduld und der Seelenruhe? Wo finden sich diejenigen, die auf Enttäuschungen mit Sanftmut reagieren? Viele Menschen sind nicht einmal sich selbst gegenüber milde. Ihre Welt ist voller Forderungen und Selbstbestrafung.«
Die Menschentraube um ihn herum war noch größer geworden. Der Traumhändler hob den Blick zum Himmel, senkte ihn langsam wieder und vervollständigte
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