Der Traumhändler
dann seine Interpretation der zweiten Seligpreisung, wobei er die klassische Motivationsvorstellung auf den Kopf stellte: »Stoppt das neurotische Bedürfnis, eure Mitmenschen ändern zu wollen! Niemand ist in der Lage, einen anderen Menschen zu verändern! Wer von den anderen mehr verlangt als von sich selbst, kann zwar im Finanzwesen arbeiten, aber keinen Frieden mit seinen Mitmenschen schließen.«
Und er fuhr fort: »Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden. Aber warum leben wir in einer Welt, in der die Menschen ihre Tränen verbergen? Und wo sind diejenigen, die über die Selbstsucht weinen, die unsere Augen verdunkelt und uns daran hindert, die Gefühle derer zu sehen, die wir lieben? Wie viel Angst und Zerrissenheit ist wohl für immer stumm geblieben, und wie viele Menschen haben wir verletzt, ohne sie um Verzeihung zu bitten?«
Seine Worte brachten die Zuhörer dazu, über das Verhältnis zu ihren Mitmenschen nachzudenken und sich ihrer Selbstbezogenheit zu stellen.
»Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Kinder Gottes heißen. Aber wo sind die Friedensstifter, die Experten in der Lösung zwischenmenschlicher Konflikte? Sind wir alle nicht eher Spezialisten darin, über unsere Nächsten zu urteilen? Wo sind diejenigen, die ihre Mitmenschen schützen, auf sie setzen, sie versöhnen, an sie glauben und sich ihnen schenken? Jede Gesellschaft vereint und teilt, und jede Teilung ist auch eine Subtraktion, nämlich eine Abspaltung, Herabminderung und Geringschätzung. Zu befrieden bedeutet daher nicht, die Mathematik des Summierens zu lehren, sondern die Mathematik der Subtraktion zu verstehen. Wer das nicht begreift, ist zwar in der Lage, mit Tieren und Maschinen umzugehen, aber nicht mit menschlichen Wesen.«
Ich war sprachlos, denn trotz meiner glänzenden akademischen Bildung bereitete es mir große Schwierigkeiten, mit anderen Menschen umzugehen. Mit Tieren war das kein Problem – zumindest beschwerten sich meine Hunde nicht. Aber mein Verhältnis zu den Mitmenschen war voller Probleme. Ich stellte hohe Anforderungen, verlangte viel und war daher zwar in der Lage, meine Arbeit zu leisten, aber nicht, meinen Frieden mit den Menschen zu schließen. Ich verstand nicht, welch bitteren Tribut die Mathematik der Subtraktion forderte. Dafür mussten die Leute immer so denken wie ich selbst. Erst jetzt wurde mir klar, dass ein gutes Leben sich eher auf die Kunst stützt, verlieren zu können, als darauf, gewinnen zu können.
Die Menge derer, die den Meister hören wollten, war inzwischen so groß geworden, dass schließlich der Verkehr zum Erliegen kam. Um das Verkehrschaos zu beenden, musste er seine Rede abbrechen, doch rief er an jenem Tag noch weitere Schüler zu sich, von denen jeder etwas Besonderes und keiner ein Heiliger war. Auch viele andere Leute begannen nun, ihm zu folgen, und informierten sich über das Internet gegenseitig über seinen jeweiligen Standort. Aber er hatte nur wenige dazu auserkoren, bei ihm in die Lehre zu gehen – und zwar nicht die tüchtigsten, sondern gerade die störrischsten und schwierigsten.
Das Tagewerk
D rei Tage später beraumte der Meister eine besondere Zusammenkunft ein. Offenbar wollte er nun über den größten seiner Träume sprechen – jedenfalls sah ich, wie es in ihm loderte. Er führte uns auf eine Grünfläche, auf der fast nichts von der Hektik und dem Lärm der Großstadt zu spüren war, und hieß uns, einen Halbkreis zu bilden. Es war sieben Uhr morgens. Der Tau hing noch an den Grashalmen, die ersten Sonnenstrahlen blitzten am Horizont und fielen in goldenem Bogen auf die Hibiskusblüten; die Vögel besangen den neuen Tag.
Nach und nach strömten mehr Menschen hinzu, die im Unterschied zu uns, die wir dem Meister am nächsten waren, ein Leben führten wie jedes andere Mitglied der Gesellschaft auch. Sie gingen arbeiten, hatten eine Familie, Freunde und Hobbys. Schließlich waren es etwa dreißig Personen – Arbeiter und Manager, Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter … Unter ihnen waren Christen, Buddhisten, Muslime und Anhänger weiterer Religionen.
Zu unserer Überraschung begann der Traumhändler seine Rede diesmal, indem er den Schleier über seiner mysteriösen Vergangenheit ein wenig lüftete: »Früher hatte ich einmal große Macht, die sich über mehr als hundert Länder erstreckte. Aber dann passierte etwas, und die Zeit blieb plötzlich stehen. Ich war völlig untröstlich und verlor den Boden unter den
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