Der Traumhändler
anstarrten, maßte sich aber trotzdem an, das Projekt des Meisters schlechtzumachen: »Folgendes, Chef. Diese Geschichte von der Menschlichkeit ohne Grenzen ist doch alt. Uralt, wusstest du das?«
Er versuchte, mit den Fingern zu schnipsen, um seine Aussage zu unterstreichen, und lallte: »Wir Säufer kennen sie schon soooo lange! Kein Säufer ist mehr wert als der andere. Wir küssen uns, wir umarmen uns und wir singen zusammen. Für uns gibt’s keine Grenzen! Klaro?«
Ich schaute zum Traumhändler hinüber. Immerhin investierte er mit einer Engelsgeduld seine wertvolle Zeit in unsere Ausbildung, und ich fragte mich, ob ihm bei einem solchen Rückschlag nicht der Geduldsfaden reißen würde.
Doch zu meiner Überraschung ging der Meister lächelnd auf die beiden zu. Er umarmte sie und sagte scherzhaft: »Es gibt Leute, die können für immer außerhalb ihrer Puppe leben. Andere müssen halt ab und zu wieder nach Hause.«
Es war unglaublich: Statt seiner Enttäuschung Ausdruck zu verleihen, bestätigte er sogar noch, was Honigschnauze gesagt hatte: »Friedliche Säufer kennen tatsächlich keine trennenden Grenzen zwischen den Menschen. Warum? Weil die Wirkung des Alkohols auf das Gehirn die Bereiche des Gedächtnisses blockiert, in denen unsere Vorurteile und kulturellen, nationalen und sozialen Barrieren gespeichert sind. Dennoch ist es besser und sicherer, diese Trennmauern nüchtern durch die schwierige Kunst des Denkens und Wählens zu überwinden!«
Dann begann der Traumhändler, äußerst gut gelaunt in der Mitte der Menge zu tanzen, denn er wusste, dass man einen anderen Menschen nicht verändern kann, sondern nur sich selbst. Ihm war völlig klar, dass außerhalb der Puppe immer unvorhergesehene Dinge passieren können.
Als ich sah, wie verständnisvoll der Meister gerade mit den Schülern umging, die außer Kontrolle gerieten, verstand ich, dass seine Größe vor allem darin bestand, sich der rebellischen und lernschwachen unter ihnen anzunehmen.
Wie viele Verbrechen ich doch als Lehrer begangen hatte! Nie war ich einem aufmüpfigen Studenten entgegengekommen oder einem hilfsbedürftigen Studenten zur Seite gesprungen.
Ein wenig abseits der Menge sagte ich zu Professora Jurema: »Ich habe Studenten mit den Anforderungen des Bildungssystems erschlagen und ihre Kreativität begraben.«
Jurema hatte den Mut, ebenfalls zu beichten: »Ich leider auch. Anstatt kreative Rebellion, Intuition und vernünftiges Denken zu fördern, habe ich ausschließlich Präzision in der Wissenswiedergabe gefordert. Wir produzieren gestresste junge Leute mit Raubtierinstinkt, die danach gieren, der Erste von allen zu sein, statt friedensstiftende, tolerante Menschen, die nicht zu stolz sind, erst an neunter oder zehnter Stelle zu stehen.«
Ich hatte das Gefühl, dass wir auf unserer Wanderschaft nun die Kindheit hinter uns gelassen hatten und langsam erwachsen wurden.
Das Fest dauerte noch bis zum Morgengrauen, und alle waren trunken vor Freude. Barnabas wurde eingeladen, dem Team der Traumhändler beizutreten. Er und Bartholomäus waren mit Abstand das auffälligste und auch schwierigste Paar in unseren Reihen, und keiner von uns war sich sicher, dass die beiden sich bessern würden. Vielleicht würden sie uns noch verrückter machen, als wir schon waren. Aber das störte mich nicht, denn ich lernte, dieses Leben zu lieben.
Die lebendigen Toten
D er Ruhm des Meisters wuchs von Tag zu Tag und erreichte schließlich auch die Finanzelite. Unternehmer und Geschäftsleute hatten vom ungewöhnlichen Mann gehört, und da sie beständig nach effektiveren Führungsmethoden und Formen der Kreativität suchten, ließen sie mir einen Brief zukommen, mit dem der Meister zu einem Vortrag eingeladen wurde. Sie waren begierig darauf, den Mann kennenzulernen, der dabei war, die Gesellschaft in Brand zu setzen.
Als alter Marxist war ich davon überzeugt, dass sich diese Elite für nichts anderes interessierte als für Geld, Geld und nochmals Geld. So hätte ich spontan fast geantwortet, dass der Traumhändler die Einladung sicherlich nicht annehmen würde. Ich wollte seiner Entscheidung aber nicht vorgreifen und überreichte ihm die Einladung – in der Gewissheit, dass er sie ausschlagen würde.
Doch ich wurde erneut überrascht. Der Meister dachte kurz nach und sagte dann, er wäre für ein Gespräch bereit, aber an einem von ihm festgelegten Ort. Er nannte mir die Anschrift, von der ich noch nie gehört hatte. Daher fragte ich
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