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Der Traumhändler

Der Traumhändler

Titel: Der Traumhändler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Augusto Cury
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»Was mache ich eigentlich hier?«
    Es war wohl das erste Mal, dass ein Vortrag über Kreativität und Führungsqualitäten auf einem Friedhof stattfand. Und bald sollte sich herausstellen, wie angemessen es war, zwischen den Toten über die leidvolle Welt der Lebenden zu sprechen.
    Nach einer Weile blieb der Meister stehen, und als wir uns alle um ihn versammelt hatten, begrüßte er uns mit seiner tiefen, sonoren Stimme auf äußerst ungewöhnliche Art: »Ich heiße die zukünftig reichsten Friedhofsbewohner willkommen! Fühlen Sie sich wie zu Hause!«
    Die Geschäftsleute bekamen weiche Knie. Sie waren es zwar gewohnt, große Risiken einzugehen und harte Konkurrenzkämpfe zu überstehen, aber das war ein Schlag in die Magengrube. Schon zu Beginn der ersten Runde gegen den Unbekannten hingen sie in den Seilen.
    Auch ich fühlte mich betroffen, und die bleichen, kunstvoll verzierten Mausoleen der reichen Patrizierfamilien, zwischen denen wir standen, trugen noch zu meiner Überwältigung bei.
    Nun, da jeder auf sich selbst zurückgeworfen war, ließ der Meister seinem Gedankenfluss freien Lauf: »Hier ruhen angesehene Mitglieder der Gesellschaft. Träume und Albträume, verborgene und offenbarte Gefühle, Ängste und Freuden haben ihr Leben bestimmt wie das eines jeden Menschen. Ihre Geschichten schlafen hier für immer, und nur ihre nächsten Verwandten denken noch manchmal an sie.«
    Worauf wollte der Meister hinaus? Hatte er damit seinen Vortrag begonnen? Würde er überhaupt einen Vortrag halten? Jedenfalls führten mich seine Worte wieder zu meiner eigenen Geschichte zurück, und ich fragte mich, ob ich in der Vergangenheit der hier Begrabenen auch meine eigene Zukunft finden würde.
    Nun wurde seine Stimme, die zunächst eher angsteinflößend gewesen war, unerwartet weich, und er bat seine Zuhörer: »Gehen Sie doch mal eine Weile umher und lesen Sie die Grabinschriften!«
    Dafür hatte ich mir bisher noch nie Zeit genommen. Trotz der schlechten Beleuchtung setzten wir uns in Bewegung, um die Pfade zwischen den Gräbern zu beschreiten und die in Stein gemeißelten Botschaften zu lesen.
    Wie viele große Worte und edle Gefühle! Und wie viel Sehnsucht! Ich las:
    Meinem herzensguten Mann in ewiger Liebe und Verbundenheit – Gott möge ihm Frieden schenken!; Meinem geliebten Vater – Die Zeit hat dich von uns genommen, aber unsere Liebe für dich kann sie nicht nehmen ; Papa, du bist unvergesslich. Ich werde dich immer lieben ; Dem unersetzlichen Freund – Danke, dass du gelebt hast und Teil unseres Lebens warst .
    Ich weiß nicht recht, wie mir geschah, aber ich wurde plötzlich von Liebe überschwemmt und musste an die Menschen denken, die ich verloren hatte. Am Grab meines Vaters hatte ich keine Inschrift anbringen lassen. Ich hatte ihm noch nicht einmal dafür gedankt, mir das Leben geschenkt zu haben. Sein Selbstmord hatte meine Gefühle blockiert. Auch meiner tapferen Mutter hatte ich keine Botschaft gegönnt, abgesehen von der, die ich still in meinem Herzen bewahre: »Ich liebe dich. Danke für die Geduld, mit der du meine Aufsässigkeit ertragen hast.«
    Ich blickte um mich und sah, dass nicht nur ich, sondern auch alle anderen von Gefühlen überwältigt waren. Die Grabinschriften hatten die Türen zu ihrem Unterbewusstsein aufgestoßen und lange Verdrängtes zutage gefördert. Männer, die Unternehmen mit Tausenden von Angestellten leiteten, spürten plötzlich wieder ihre alten Wunden und merkten, dass sie nichts als einfache Sterbliche waren.
    Da wurde mir klar, dass der Meister diese Stimmung mit Absicht erzeugt hatte. Er hatte den Schutzpanzer ihres Hochmuts und ihres finanziellen Status aufgebrochen, um sie in ihrer ganzen Verletzlichkeit mit dem zu konfrontieren, was er ihnen zu sagen hatte. Mit einer Frage sprach er ein Thema an, auf das kein Unternehmer gut zu sprechen ist: »Wo oder wer sind denn die Proletarier der Gegenwart?«
    Sofort fürchtete ich, dass seine Zuhörer die Kritik, die er nun sicherlich vom Stapel lassen würde, nicht auf sich sitzen lassen und das Weite suchen würden.
    Niemand antwortete. Die Antwort schien offensichtlich zu sein, doch dann stellte der Traumhändler die marxistische Theorie zu meiner Bestürzung völlig auf den Kopf: »Ihr seid die Proletarier der Gegenwart!«
    Ich dachte nur: »Was sagt er da? Weiß er denn nicht, wen er vor sich hat?« Am liebsten wäre ich vor Scham im Boden versunken, da der Meister offensichtlich keine Ahnung hatte, wovon er

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