Der Traumhändler
waren, wie sie dachten. Allerdings waren manche immer noch skeptisch.
Der Meister liebte jedoch die Skeptiker, da sie ihm die Gelegenheit gaben, seine Gedankenschärfe zu entfalten. Daher formulierte er nun seine Diagnose: »Meine Damen und Herren, die Zeiten der Sklaverei sind noch längst nicht vorbei – sie haben nur ihr Gesicht verändert! Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen und Sie bitten, diese ehrlich zu beantworten. Denken Sie daran: Mangelnde Aufrichtigkeit belastet nur Ihr eigenes Gewissen! Antworten Sie mir also: Wer von Ihnen hat Migräne?«
Die Leute waren ein bisschen verlegen, doch dann hob einer nach dem anderen die Hand.
»Wer leidet unter Verspannungen und Rückenproblemen?«
Erneut meldete sich die große Mehrheit.
Dann stellte der Träumhändler eine ganze Reihe weiterer Fragen: »Wer wälzt sich nachts schlaflos hin und her und ist morgens wie gerädert? Wem gehen die Haare aus? Wem kreisen unentwegt Gedanken im Kopf herum und lassen ihn nicht zur Ruhe kommen? Wer macht sich Sorgen über Dinge, die noch gar nicht eingetreten sind? Wer hat ständig das Gefühl, am Rande des Abgrunds zu stehen? Wer ärgert sich sogar über Lappalien? Wer ist unausgeglichen und geht bei Frustrationen sofort in die Luft? Wer hat Angst vor der Zukunft?«
Die meisten Anwesenden nahmen die Hand gar nicht mehr herunter, und ich konnte kaum glauben, was ich sah. Erschüttert rieb ich mir die Augen und fragte mich: »Ist das nicht die Elite der Gesellschaft? Wieso ist ihre Lebensqualität so schlecht? Trinken diese Leute nicht die erlesensten Weine? Speisen sie nicht in den besten Restaurants? Warum sind sie dann derart gestresst?«
Es fiel mir äußerst schwer, diesen Widerspruch aufzulösen. Die Reichen fuhren in Luxuskarossen durch die Gegend, konnten sich aber vor lauter Anspannung nicht mehr bewegen. Sie verbrachten ihre Wochenenden im Haus am Meer, aber ihre Gefühle surften nicht auf den Wellen der Lust. Sie hatten komfortable Betten mit teuren Matratzen, konnten aber nicht ruhig schlafen. Sie trugen untadelige Anzüge, waren ihren Sorgen aber nackt und schutzlos ausgeliefert.
»Was für ein Wahnsinn!«, dachte ich. »Wo ist das Glück, das denjenigen versprochen wurde, die auf der Karriereleiter ganz oben ankommen? Wo ist die innere Ruhe derjenigen, die sich um Geld keine Sorgen mehr machen müssen? Wo ist der Lohn für den Sieg über die Konkurrenz? Warum sind diese Leute trotz ihrer vielen Versicherungen für Haus, Firma und Rente, trotz Lebensversicherungen und sogar Versicherung für den Fall ihrer Entführung so schrecklich unsicher?« Wie Schuppen fiel es mir von den Augen: Das System zermalmte tatsächlich seine Führungspersönlichkeiten.
Im Garten der zerbrochenen Träume
N ach den Fragen des Meisters auf dem Recoleta -Friedhof schwirrte uns der Kopf. Ich hatte die Unternehmerelite jahrelang in meinen Vorlesungen angegriffen und musste nun einige meiner Überzeugungen überprüfen. Langsam verstand ich, dass das System alle Menschen betrog, insbesondere diejenigen, die es am meisten nährten. Es traf sogar die Berühmtheiten, die ihre Privatsphäre für einen oft nur sehr flüchtigen Erfolg opfern mussten. In dieser Gesellschaft konnte man schnell in die Bedeutungslosigkeit zurückfallen.
Im Namen der Wettbewerbsfähigkeit raubte ihnen das System auch noch den letzten Rest an geistiger Energie. Im Grunde verbrauchten sie mehr Energie als so mancher Schwerarbeiter und waren ständig erschöpft, weil ihre Gedanken nie zur Ruhe kamen.
In den Produktionsbetrieben war der Stress besonders groß, da ein wahrer Preiskrieg ausgebrochen war und das Preisgefüge durch Subventionen derart verzerrt wurde, dass dadurch sogar Unternehmen auf der anderen Seite des Globus aus dem Markt gekickt werden konnten. Hinzu kamen die von Land zu Land unterschiedlichen Steuern und Löhne und die Tatsache, dass manche Firmen ihre Produkte sogar zu Preisen anboten, die unter den Produktionskosten lagen, um den Markt zu erobern. In dieser Hölle zu überleben war ein teuflischer Job.
Die Menschen, die in diesem Sektor arbeiteten, zahlten dafür einen hohen Preis. Fünfunddreißig Prozent von ihnen hatten Herzprobleme oder Bluthochdruck und fünfzehn Prozent Krebs, teilweise im Endstadium. Dreißig Prozent litten unter Depressionen, zehn Prozent unter Angststörungen und sechzig Prozent hatten Eheprobleme. Fünfundneunzig Prozent klagten über drei oder mehr Symptome einer psychischen oder psychosomatischen
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