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Der Tribun

Der Tribun

Titel: Der Tribun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Kammerer
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Fohlen. Du hast für sie gebetet? Eine der Frauen sah, dass du am Ufer einen Blütenkranz ins Wasser geworfen hast.«
    Seine Wangen glühten, und er heftete den Blick auf den Boden, damit sie es nicht bemerkte. »Sie ist ein gutes Kind«, murmelte er. »Sie war und ist immer freundlich zu mir.«
    »Das ist meine Schuld.« Sunja hatte innegehalten und starrte in die Ferne. »Ich habe ihr zu viel von Latium erzählt, von der Zeit, als Hraban und ich …«
    Cinna fuhr herum; ihre Stimme erstarb, die Steinchen prasselten nacheinander in ihren Schoß, und sie wandte ihm ihr schönes, ovales Gesicht zu.
    »Hat Hraban es dir nie erzählt? Wir waren Geiseln, bürgten mit unserem Leben dafür, dass unsere Leute sich der Unterwerfung fügten. Schößlinge, die man in einen fremden Garten pflanzte. Als wir zurückkehrten, waren wir den Sitten der Ahnen entfremdet.«
    Sie richtete sich ein wenig auf und zog den Umhang fester um die Schultern, als ein kühler Hauch vom Tal heraufwehte. »Ich habe oft vor dem Haus gesessen und gelesen, bis es dunkel wurde.«
    Stumm starrte Cinna sie an, während der Wunsch, ihren Namen zu flüstern, übermächtig wurde. Das Licht der untergehenden Sonne warf einen feinen Schimmer auf ihre Hände, die aus dem Umhang herauslugten.
    »An unserem letzten Abend dort schaute ich auf die sanften Hänge mit ihren wohlgeordneten Weingärten und Olivenhainen. Ich hörte die Schafe blöken, die Ziegen meckern, die Frau des Verwalters schimpfte die Sklavinnen, und in der Luft trillerte eine einzelne Lerche.« Die winzige Wölbung ihrer Kehle hüpfte; sie blinzelte, blind gegenüber Cinnas Wachsamkeit. »Es war wunderbar warm.«
    »Wo habt ihr gewohnt?«, fragte er schleppend.
    »In Tusculum.« Hastig wischte sie über ihre Augen. »Auf dem Landgut der Vinicier, genauer gesagt in der Villa des Publius Vinicius.«
    »Ihr habt im Hause des Bruders eines ehemaligen Statthalters der Germania gelebt?«
    Sie nickte langsam. »Marcus Vinicius brachte uns in seinem Gefolge nach Italien. Es war eine anstrengende Reise für uns Kinder. Erst auf Publius’ Tusculanum durften wir uns ohne Aufsicht im Freien bewegen.« Wieder schluckte sie, ließ ein Steinchen über die Wiese fliegen.
    »Wir vergingen beinahe vor Heimweh. Nur eine alte italische Küchenmagd beherrschte ein paar Brocken der Sprache der Langobarden. Hraban bekam einen griechischen Erzieher und einen Fechtlehrer, während ich zu den Mägden im Atrium gesetzt wurde und mich mit Spinnen und Weben beschäftigen sollte. Aber Hraban hatte Langeweile, der Fechtlehrer war nicht sehr anstellig, und Publius kümmerte sich die ersten beiden Jahre nicht um uns. So lernten wir heimlich gemeinsam Latinisch, Griechisch und ein bisschen Mathematik und übten die Lektüren ein, die Hraban hasste.
    Eines Tages erwischte uns Hrabans Erzieher dabei, gab uns ein paar Ohrfeigen, schleppte uns vor unseren Herrn und berichtete ihm, dass wir uns nicht an die Regeln hielten. Publius schickte den Sklaven weg und befahl uns in sein Arbeitszimmer, wo er uns streng anschaute. Nachdem wir unsere Vergehen gestanden hatten, hieß er uns aufsagen, was wir gelernt hatten. Und während wir unsere Verse herunterspulten, hellte sich sein Gesicht auf. Er begann, uns zu unterbrechen, um uns zu verbessern, rief seinen Vorleser herbei, der uns fortan Unterricht gab, mit uns las, uns erklärte, was wir lasen, und uns anwies, richtig zu lesen.«
    Bei aller Bestürzung entging Cinna nicht, dass sie nochmals mit dem Ärmel die Augen betupfte, dann den Kopf zurücklegte und zu rezitieren begann; griechische Worte liebkosten seine Ohren, Klänge einer vermissten, ersehnten Vergangenheit, Odysseus’ Huldigung der Königstochter Nausikaa. Seine Lippen formten die Laute nach, rau kamen die Worte aus der Kehle. Er flüsterte die Verse und fand sich Auge in Auge mit Sunja. Als er die Hand nach ihr ausstreckte, sprang sie auf. Sie wies auf zwei alte Frauen, die auf dem Weg stehen geblieben waren.
    »Ich werde gehen«, murmelte sie, »bevor sie im Dorf auf den Gedanken kommen zu tratschen.«
    Die tastende Berührung, die seine Schulter streifte, schien ein Abschied zu sein. Er wollte sie festhalten, doch er griff ins Leere; sie hastete bereits den Hang entlang. Schmerzhaft empfand er bei ihrem Anblick den Widerhall der lange vergessenen Verse, beobachtete, wie sie die Grußworte der beiden Frauen erwiderte, und lauschte dem verwehten Klang ihres Lachens.
    Als die Sonne hinter den Hügeln verschwunden war, erhob

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