Der Tribun
Wasser. Cinna tat es ihm nach. Die Kälte fraß sich bis in die Knochen, aber er presste nur die Lippen etwas fester aufeinander. Er begriff, dass er den schwankenden Kahn festhalten sollte, damit der Alte hineinklettern konnte, spielte mit dem Gedanken, ihm einen Stoß zu versetzen, verbiss sich das Grinsen bei der Vorstellung, wie der Greis mit den Armen das Wasser durchwühlen und nach Luft schnappen würde. Er würde es ja nicht sehen, wenn er an Land hechtete, in den Wald rannte.
Er käme nicht weit.
Der See maß etwa hundert Doppelschritte in der Breite und annähernd das Zweifache in der Länge. Auf dem glatten Spiegel wippten die Schwimmhölzchen, ein Anblick, der ein schiefes Lächeln in die Mundwinkel des Alten lockte. Er lehnte sich geschickt über den Rand des Bootes und holte das Netz ein. Die Hände griffen abwechselnd in das dunkle Grün des Sees, fassten ein paar Maschen und zogen sie hinauf. Eine knappe Kopfbewegung wies Cinna an, es ihm gleichzutun. Der kühle Wind, dessen Berührung die Härchen auf Cinnas Unterarmen aufstellte, trug das leise, helle Wiehern eines Pferdes über das Wasser. Mit einem kurzen Blick erkannte er den Reiter, der am Ufer wartete und beobachtete, was auf dem Wasser geschah. Aus dem Augenwinkel sah er den Alten ehrfurchtsvoll grüßen und fing sich für seine Respektlosigkeit einen kraftlosen Tritt ein, den er wortlos hinnahm, ohne in seiner Arbeit innezuhalten. Die silbernen Fischleiber, die sich im Garn verfangen hatten, klatschten in den Eimer, wo sie eine Weile schillernd zappelten, während die Lagen des Netzes allmählich den Boden des Kahns bedeckten.
*
Liuba fand ausreichend Beschäftigung für den Gefangenen. Nicht nur, dass er in aller Frühe und in der Abenddämmerung mit dem alten Fischer auf den See hinausgeschickt wurde; keine Arbeit war zu niedrig, gleichgültig, ob es galt, eines der Reetdächer auszubessern, ob Lederzeug geflickt oder die Latrine ausgehoben werden musste.
Anfangs hatte Cinna Anzeichen von Widerstand gezeigt. Doch dieser leise Trotz erregte nur den Spott des hoch gewachsenen Kriegers. Zwar war es vorgekommen, dass ein böses Funkeln in Liubas Augen aufflackerte und dunkle Flecken auf seinen bärtigen Wangen den Zorn verrieten, doch nur ein einziges Mal hatte er Cinna mit der Waffe bedroht und ihm nach kurzem Stutzen die flache Seite der Klinge gegen den Oberarm geschlagen.
»Wenn du glaubst, dass ich mich dazu herablassen würde, dich zu töten, irrst du«, hatte er von oben herab gerufen. »Ich kann dich noch brauchen – und du wirst früh genug erfahren wozu.«
Schlaflosigkeit quälte Cinna. Die Haut war von Kälte und harter Arbeit rissig, die Knöchel aufgeschürft, die Hände schmerzten, und zum ersten Mal in seinem Leben litt er Hunger. Liuba ahndete Widerspenstigkeit mit einer straffen Kürzung der Rationen. Da half es nicht viel, dass Saldir oder Swintha, die Magd, ihm immer wieder etwas zusteckten, dass sogar Sunja ihm einmal wortlos einen Fladen reichte. Es war nicht der Hunger nach Nahrung, der ihn peinigte.
Die strengen Worte eines Wanderpredigers, eines stoischen Meisters, hallten in seinem Kopf wider, der letzte Ausweg, der gesucht werden müsse, wenn ein Leben in Würde unmöglich sei, Worte, ausgesprochen auf der Agora, dem Marktplatz von Athen, über dem die Hitze flirrte. Auf den Stufen einer Wandelhalle, der Stoá Poikíle, saß ein alter, kurz geschorener, bartloser Mann in schlichter Kleidung und belehrte einige kaum dem Knabenalter entwachsene Jünglinge über den würdevollen Tod des Weisen. Sie waren stehen geblieben, Cinna und sein Freund, sein schöner, feingliedriger Freund Androkleos. Sie hatten sich viel sagende Blicke zugeworfen, um die Worte des Greises zu kommentieren – als Akademiker waren sie Gegner der stoischen Schule. Androkleos, Sohn einer altadligen Familie, Lehrer für die Grundlagen der Logik, hatte seinen Arm um Cinnas Taille gelegt, als plötzlich der harte Blick des Weisen auf sie fiel. »Sag, Alter, warum lebst du dann noch?«, hatte Cinna ihm zugerufen, bevor sie lachend davongeeilt waren in das Getümmel der Agora.
Wie verheißungsvoll klang jetzt diese Rede in seiner mürben Erinnerung. Kaum konnte die sanfte Argumentation seines liebsten Lehrers dagegenhalten. Dass die Götter einem jeden mit dem Leben auch eine Aufgabe zugewiesen hatten, die es bis zur Abberufung durchzuhalten galt. Bis zum bitteren Ende. Die Götter seien Hirten, die Menschen ihre Herden, und niemand sei
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