Der Tristan-Betrug
ungebührlich lange in der Nähe herumzutreiben schien. In einfacher russischer Kleidung, in seiner tjelogrejka und mit einem Rucksack voller Werkzeug, sah er ganz wie ein Arbeiter aus, den niemand eines zweiten Blickes würdigte.
Während er die Umgebung des toten Briefkastens lange Zeit genau beobachtete, gestattete er sich, zwischendurch an Lana zu denken. Bisher hatte alles planmäßig geklappt, und ihre anfängliche Angst schien sich gelegt zu haben. Sie hatte Rudolf von Schüssler den ersten Packen Dokumente übergeben und dabei behauptet, sie habe sie willkürlich im Arbeitszimmer ihres Vaters zusammengerafft. Sie sagten ihr nichts, hatte sie behauptet; sie bestünden nur aus Zahlen und seien unverständlich, schrecklich langweilig. Von Schüssler hatte sie jedoch keineswegs langweilig gefunden, hatte Lana berichtet. Er war hochgradig erregt gewesen - viel aufgeregter, als sie ihn je zuvor erlebt hatte.
Von Schüssler hatte ihr das Verfahren erklärt, denn schließlich glaubte er, er leite dieses Unternehmen. Er würde die Dokumente in die deutsche Botschaft mitnehmen, wo sie fotografiert werden sollten, und ihr die Originale dann sofort zurückgeben. Unter keinen Umständen dürfe ihr Vater irgendwelche Papiere vermissen, schärfte er Lana ein, deshalb müsse sie sich an strikte Vorgaben halten. Material sollte sie nur nachts entwenden, wenn ihr Vater schlief, und von Schüssler anrufen, wenn sie es hatte. Dann würde sie ihm die Dokumente in seiner Wohnung übergeben, und er würde sie sofort in die Botschaft bringen, um sie fotografieren zu lassen. Anschließend würde er ihr die Originale zurückgeben, damit Lana in die gemeinsame Wohnung zurückfahren und das Material zurücklegen konnte, bevor ihr Vater morgens aufwachte.
Natürlich gab es viele Faktoren, die diesen Ablauf stören konnten. So musste Swetlana an den meisten Abenden im Bolschoitheater auftreten und konnte daher keine Schriftstücke entwenden. Aber an ihren freien Abenden musste sie unbedingt in der gemeinsamen Wohnung bleiben, um zu sehen, ob ihr Vater neue Unterlagen mit nach Hause brachte.
Rudolf von Schüssler war auch bemüht, Lana zu versichern, sie tue damit ein gutes Werk. Lana hatte sich mit grimmigem Humor an seine Beteuerungen erinnert. »Je mehr unsere beiden Länder voneinander wissen«, hatte er gesagt, »desto länger wird dieser Frieden zwischen ihnen andauern. Du leistest etwas Wundervolles - nicht nur für mein Land, sondern auch für dein eigenes.«
Nachdem Metcalfe die Umgebung eine Stunde lang beobachtet und dabei über alles Mögliche nachgedacht hatte, war er überzeugt, dass der tote Briefkasten nicht überwacht wurde. Er ging rasch zu dem unbewachten Eingang des bescheidenen Wohngebäudes zwischen den beiden Geschäften.
Der kleine Vorraum im Erdgeschoss war dunkel und leer; der grün lackierte Heizkörper hing genau wie von Milliard beschrieben rechts an der Wand. Er griff dahinter - der Heizkörper war wie versprochen kalt -, ertastete etwas und zog es heraus: einen dicken grünen Umschlag, dessen Farbe eine perfekte Tarnung war. Dies war die zweite Lieferung gefälschter Dokumente, die Corcorans Fachleute hergestellt und als Kuriergepäck nach Moskau hatten bringen lassen. Metcalfe stopfte den Umschlag unter seine wattierte tjelogrejka und verließ das Gebäude, so schnell er konnte, ohne Aufsehen zu erregen. Nur wenige Straßen weiter befand sich der Signalpunkt, an dem er mit einem Rotstiftstrich signalisieren würde, dass er den toten Briefkasten geleert hatte.
Aber als er das Haus verließ, wurde er aus dem Augenwinkel heraus auf eine jähe Bewegung auf der anderen Straßenseite aufmerksam. Metcalfe sah genauer hin und erkannte ein vertrautes Gesicht. Er schluckte trocken.
Dort drüben stand der blonde NKWD-Mann mit den blassgrauen Augen, der sich jetzt rasch in Bewegung setzte und mit großen Schritten auf ihn zukam, statt wie bisher diskreten Abstand zu halten. Als ob der Agent wüsste, dass Metcalfe gerade einen toten Briefkasten geleert hatte und belastendes Material am Körper trug!
Er durfte jetzt nicht geschnappt werden! Er durfte nicht verhaftet werden, nicht mit den Schriftstücken in der Tasche. Sie würden bewirken, dass er sofort eingesperrt und anschließend hingerichtet werden würde, die Russen würden sich die Mühe sparen, ihm den Prozess zu machen. Das Unternehmen würde enttarnt werden, und die anschließenden Ermittlungen würden zu Swetlana führen; letzten Endes würde auch sie
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