Der Tristan-Betrug
blaue Augen, einen rosigen Teint und ein freundliches Lächeln; er trug eine blaue Marineuniform mit zweireihigem Jackett und goldbesetzter Mütze.
Dieser Mann war Admiral Wilhelm Canaris. Als Chef der militärischen Abwehr im OKW war er seit 1933 der Großmeister der deutschen Spionage. Er war auf den Berghof, Hitlers Refugium bei Berchtesgaden, gekommen, um dem Führer weltbewegende nachrichtendienstliche Erkenntnisse vorzulegen, die er vor kurzem erhalten hatte.
Canaris wurde ins Arbeitszimmer des Führers geleitet - in einen großen Raum mit Panoramafenstern, spärlich möbliert, obwohl die hier stehenden Möbel übergroß waren. Dazu gehörte ein Sideboard, das Hitlers Lieblingsschallplatten - vor allem Wagner - enthielt, wie Canaris wusste; außerdem gab es hier auch eine Bronzebüste Wagners. An einer Wand hing eine riesige, ziemlich hässliche Uhr, die von einem grimmigen Bronzeadler gekrönt wurde. Hinter zwei großen Gobelins verbargen sich ein Filmprojektor und an der Wand gegenüber eine Filmleinwand.
In den mit rotem Ziegenleder bezogenen Sesseln vor dem gewaltigen Natursteinkamin saßen vier Männer, darunter der Führer: zwei auf einer Seite, zwei auf der anderen. Sie waren offensichtlich in eine lebhafte, ziemlich intensive Diskussion verwickelt.
Einer der Männer war der Oberbefehlshaber des Heeres, Generalfeldmarschall Walter von Brauchitsch. Er hatte General Franz Halder, den Chef seines Generalstabs, mitgebracht. Canaris kannte beide als vernünftige Männer; beide waren keine Fanatiker. Sie standen in der deutschen Militärhierarchie nicht ganz oben, aber sie waren Männer, zu denen Hitler genug Vertrauen hatte, um mit ihnen einen seiner geheimsten Pläne zu besprechen - ein Vorhaben, gegen das viele seiner Generale waren und zu dem er seit über einem Jahr mal mehr, mal weniger tendierte: den Angriff auf Russland. Sie waren die ersten Männer, die Hitler unmittelbar nach der Kapitulation Frankreichs mit der Ausarbeitung vorläufiger Angriffspläne beauftragt hatte, und sie waren die Männer, auf deren Urteil der Führer vertraute.
Rechts neben Hitler saß ein Mann, der einen niedrigeren Dienstgrad, aber wahrscheinlich mehr Macht als die meisten Generale hatte: Oberst Rudolf Schmundt, Hitlers Wehrmachtsadjutant.
Die Männer nickten Canaris zu, als er auf dem langen und unbequem niedrigen Sofa Platz nahm, das die einzige freie Sitzgelegenheit war. Der Admiral verfolgte die Diskussion, die diese Bezeichnung tatsächlich verdient hatte. Mit Hitler selbst konnte man zwar nicht diskutieren, aber man konnte seinen Part übernehmen oder eine Diskussion vor Hitler veranstalten.
Schmundt, den Canaris für Hitlers Alter Ego hielt, sprach mit mühsam gebändigtem Zorn. »Churchill hat unsere Friedensfühler zurückgewiesen«, fauchte er, »und Stalin greift frech nach dem Balkan. Churchill setzt seine ganze Hoffnung offensichtlich auf den Kriegseintritt Amerikas und Russlands.«
»Richtig«, warf von Brauchitsch ein.
»Deshalb müssen wir die Sowjetunion niederwerfen«, fuhr Schmundt fort, »und so Englands Hoffnung vernichten, Russland könnte an seiner Seite in den Krieg eintreten. Und damit Deutschlands Herrschaft über Europa zementieren. Je früher wir Russland zerschmettern, desto besser.«
»Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst!«, widersprach von Brauchitsch nachdrücklich. »Wann haben Sie zuletzt einen Blick in Ihre Geschichtsbücher geworfen? Sollen wir Napoleons Fehler wiederholen und den Krieg auf den verschneiten Steppen Russlands verlieren? Auch Napoleon hat es damals versäumt, die Britischen Inseln zu besetzen. Greifen wir Russland an, sind wir erledigt!«
»Haben Sie vergessen, dass wir das zaristische Russland im letzten Krieg besiegt haben?«, fragte Schmundt nicht weniger energisch.
Hitler, der fast unhörbar leise sprach, ergriff erstmals das Wort. Er hatte zugehört, überlegt. Die anderen beugten sich nach vorn, um besser zu hören, was er sagte.
»Und dann haben wir Lenin in einem versiegelten Zug nach Russland befördert - wie einen Pestbazillus.«
Seine Zuhörer schmunzelten höflich. »Genau das war Lenin«, sagte Hitlers Adjutant. »Aber dieser Pest muss Einhalt geboten werden. Wir dürfen nicht zusehen, wie die Balkanhalbinsel bolschewisiert wird. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Sowjets nach unseren rumänischen Ölfeldern greifen ...«
»Was Sie vorschlagen, ist der reine Wahnsinn!«, unterbrach ihn von Brauchitsch. »Das würde einen Zweifrontenkrieg
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