Der Tristan-Betrug
Gewand trug, unbeachtet bewegen. Wer nicht sehr genau hinsah, musste Metcalfe für den Tänzer halten, der den Baron von Rothbart gab; die einzige Gefahr war, dass der echte Rothbart auftauchen würde, aber zum Glück tat er das nicht.
Dann sah Metcalfe inmitten der zur Bühne strömenden Tänzer und Tänzerinnen zwei Wachleute. Sie starrten in die Gesichter der Vorbeihastenden und stellten laute Fragen. Metcalfe, der auf Armeslänge an einem von ihnen vorbeikam, machte sich darauf gefasst, angehalten und befragt zu werden, aber man hätte glauben können, er sei unsichtbar. Die Wachleute beachteten ihn überhaupt nicht. Die Maske verbarg nicht nur sein Gesicht, sondern diente auch als Legitimation. Er eilte offensichtlich auf die Bühne, deshalb durfte er nicht angehalten werden.
Das Risiko, entdeckt zu werden, schien geringer zu sein, sobald sie auf einen wohl selten benutzten Korridor abbogen, der zu einer steilen Hintertreppe führte. Ilja machte eine knappe Handbewegung. Sie hasteten lautlos die schlecht beleuchtete Treppe hinunter.
Aber ein Stockwerk tiefer trat ein weiterer Wachmann ins Treppenhaus. Er hob eine Hand, um sie aufzuhalten.
Metcalfes Magennerven verkrampften sich.
»He, Wolodja!«, rief Ilja jovial aus. »Was zum Teufel ist hier los?«
Der Wachmann kannte Lanas Freund! »Wir suchen einen Kerl, der einen weißen Arztmantel trägt«, sagte der Uniformierte.
»Arzt? Hab keinen gesehen, tut mir Leid«, antwortete Ilja. »Aber wenn mein Freund hier nicht in dreißig Sekunden auf der Bühne ist, muss ich mir eine andere Arbeit suchen.« Er rannte weiter die Treppe hinunter, und Metcalfe blieb dicht hinter ihm.
»Augenblick!«, rief der Wachmann ihnen nach.
Ilja drehte sich um. Metcalfe erstarrte.
»Du hast versprochen, mir zwei Eintrittskarten für Samstagabend zu besorgen«, fuhr der Uniformierte fort. »Wo sind sie?«
»Lass mir noch ein bisschen Zeit«, wehrte Ilja ab. »Kommen Sie, Baron, wir müssen uns beeilen.« Er hastete, dicht gefolgt von Metcalfe, die Treppe hinunter.
Unten ging Ilja weiter durch ein Labyrinth aus Korridoren voraus, bis sie ein Stahltor erreichten. Dort fummelte er am Schloss der ins Tor eingesetzten Fußgängertür herum, bis sie sich endlich aufreißen ließ. »Eingang für Tiere«, erklärte er Metcalfe.
»Tiere?«
»Pferde, Bären, manchmal sogar Elefanten, wenn wir Aida aufführen. Die Viecher dürfen den Bühneneingang nicht benützen, das können Sie mir glauben. Schon deshalb nicht, weil sie alles voll scheißen.«
Metcalfe nahm die Maske ab. Sie hasteten durch einen langen, gemauerten Tunnel, in dem es stark nach Mist roch und dessen Betonboden mit Stroh bedeckt war. Er endete an einer überdachten Ladebucht, vor der mehrere Kastenwagen mit der Beschriftung STAATLICHES AKADEMISCHES BOLSCHOI-THEATER standen. Ilja rannte zu einem großen Schiebetor, sperrte es auf und schob es dann beiseite. Draußen brauste der Großstadtverkehr vorbei. Der junge Mann kletterte ins Fahrerhaus eines Kastenwagens. Metcalfe lief zur Hecktür, riss sie auf und kletterte hinein. Der Laderaum stand voller riesiger bemalter Kulissensegmente, aber irgendwie gelang es Metcalfe doch, sich hineinzuquetschen und die Tür zuzuknallen.
Der Anlasser wimmerte, dann sprang der Motor endlich an. Ilja ließ ihn mehrmals aufheulen, bevor er den ersten Gang einlegte und anfuhr.
Metcalfe sank auf den rostigen Stahlboden, der stark vibrierte, als das Fahrzeug beschleunigte. Der Gestank nach nur teilweise verbranntem Treibstoff war erstickend.
Er versuchte, es sich für die lange Fahrt in die Außenbezirke bequem zu machen. Obwohl es hier hinten stockfinster war, stand Lanas Bild strahlend, hell leuchtend vor seinem inneren Auge. Er dachte daran, wie sie seine Warnung abgetan, wie sie ihn zum Abschied geküsst hatte und hinausgelaufen war. An ihre Tapferkeit, ihre Unerschrockenheit. An ihre Leidenschaftlichkeit.
Und wie sie sein Angebot, sie außer Landes zu schaffen, zurückgewiesen hatte. Er war enttäuscht, zutiefst betrübt, aber andererseits konnte er sie auch verstehen. Sie konnte ihren Vater und ihr Heimatland nicht verlassen. Nicht einmal um ihres Stiwa willen. Ihre Heimatliebe war stärker; das war die traurige Wahrheit.
Plötzlich bremste das Fahrzeug, dann hielt es, und der Motor wurde abgestellt. Dabei waren sie vom Bolschoitheater aus noch keine fünf Minuten unterwegs. Was war passiert - war Ilja etwa von der Polizei angehalten worden? Der Motor war nicht abgestorben, er war
Weitere Kostenlose Bücher