Der Tristan-Betrug
die Deutschen im ganzen Land viele Dutzend solcher Anlagen erbaut - allein fünfzehn in und um Berlin. Die Idee dazu stammte angeblich von den Engländern, die während der Luftschlacht über England im vergangenen Sommer in abgelegenen Gebieten aus Sperrholz und Wellblech weit über fünfhundert Scheinanlagen - Städte, Flugplätze, Werften und Stützpunkte - errichtet hatten, um die deutsche Luftwaffe dazu zu verleiten, diese Scheinziele zu bombardieren. Ihr strategisches Täuschungsmanöver war höchst erfolgreich gewesen: Es hatte die Deutschen dazu gebracht, wertvolle Zeit und Material zu vergeuden, und so die Schäden und Verluste in echten Bevölkerungszentren verringert.
»Alle Kriegführung basiert auf Täuschung«, hatte der alte chinesische Taktiker Sun Tsu gelehrt, und die Deutschen hatten dieses Prinzip sehr ernst genommen. In Berlin war der Lietzensee im Dreieck zwischen Funkturm, Kaiserdamm und Kurfürstendamm ein guter Orientierungspunkt für Bomber, die Angriffe auf die Innenstadt flogen, deshalb täuschten die Deutschen das feindliche Radar, indem sie den See mit riesigen Flößen bedeckten, die aus der Luft wie Wohngebäude aussahen. Sie hatten Lichtmasten als Nadelbäume getarnt und die Charlottenburger Chaussee zwischen Tiergarten und Brandenburger Tor mit Tarnnetzen überspannt, in die grüne Stoffstreifen eingeflochten waren, damit sie wie ein Wald aussahen. In der Umgebung des S-Bahnhofs Ostkreuz wurden riesige Scheinbauten errichtet, die den alliierten Aufklärern suggerieren sollten, dort liege die Wilhelmstraße.
Aber keine Scheinanlage in ganz Deutschland war sorgfältiger ausgeführt als diese hier.
Die Brandenburg-Studios waren 1921 gegründet worden, als die deutsche Filmindustrie ihre Blütezeit erlebte und Hollywood wirkungsvoll Konkurrenz machte. Später legendäre Stars wie Marlene Dietrich und Pola Negri, große Regisseure wie Fritz Lang und Ernst Lubitsch hatten dort gearbeitet. Nicht lange nach der Machtergreifung der Nazis, die sofort die Filmindustrie unter ihre Kontrolle brachten und die Beschäftigung von »Nichtariern« verboten, machten die Brandenburg-Studios Pleite. Später beschlagnahmten die Nazis das weitläufige Gelände, auf dem Historienfilme gedreht worden waren. Das gigantische Tonstudio, das sich in dem zentralen Stahlbetonbau befand, stand voller Kulissen und Requisiten, die sich im Lauf der Jahre angesammelt hatten. Dieses Studio war unangetastet geblieben; die Kulissen, vor denen so viele deutsche Filmklassiker gedreht worden waren, ruhten jetzt unter einer dicken Staubschicht.
Aber die Tarnfachleute der Luftwaffe hatten auf beiden Seiten des Tonstudios eine Reihe von Bauten aus Pappe mit aufgemalten Ziegeln errichtet und dadurch den gesamten Komplex in eine täuschend realistische Munitionsfabrik verwandelt. Selbst der aus den Schornsteinen aufsteigende künstliche Rauch, der feindliche Bomber anlocken sollte, wirkte überzeugend echt. Die optische Illusion war absolut perfekt.
Dieses Berlin unmittelbar westlich vorgelagerte Gebiet eignete sich gut zur Täuschung der britischen Bomber, denn in seiner Umgebung lagen zahlreiche kriegswichtige Großbetriebe. Das Kraftwerk West von Siemens stand ebenso in der Nähe wie die AEG-Fertigungsstätten, das Funkgerätewerk von Telefunken, die Panzerschmiede Alkett und die Maybach-Motorenwerke. Berlin war von Industrie umgeben, die fieberhaft Teile für die Kriegsmaschinerie der Nazis produzierte.
Wie alle deutschen Scheinstellungen war natürlich auch diese Scheinanlage verlassen. Das machte sie in Berlin und Umgebung zu einem der sichersten Orte, an dem Metcalfe, Lana und Kundrow sich treffen konnten. Noch wichtiger war jedoch die mehrere hundert mal hundert Meter große ebene Fläche vor dem ehemaligen Tonstudio. Auf der jetzt leicht verschneiten Wiese konnte die Lysander bequem landen und starten; das Kleinflugzeug brauchte zum Starten weniger als zweihundert Meter.
Der zu drei Vierteln volle Mond stand hell am Himmel, was günstig war; er würde den Landeplatz ausreichend beleuchten, glaubte Metcalfe. Die Luftbildaufklärung der RAF hatte bereits detaillierte Bilder von Berlin geliefert; tatsächlich kannte der britische Geheimdienst diese Scheinanlage sehr gut. Schließlich hatte die RAF seit August über vierzig Bombenangriffe gegen Berlin geflogen und verbesserte mit jedem Einsatz ihre Treffsicherheit.
Trotzdem mussten bestimmte Verfahren eingehalten werden, damit sichergestellt war, dass das Abholen
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